Für zwei Stunden bin ich heute endlich wieder in einer besonders schönen, weil anderen „Welt“, die ich so liebe. Im Schauspielhaus Bochum herrscht das geniale Flair; es ist für mich eine wunderbare Mischung aus heiler „Kunst-Welt“ mit konzentrierter Fokussierung, achtsam-freundlicher Menschen - inmitten dieses original-szenigen 1950er Jahre-Looks. Alleine dafür lohnt sich der Weg von Herne und der Eintritt. Am Sonntag (26.10.2025) startete in den Kammerspielen zum ersten Mal nach der bejubelten Premiere vom Freitag (24.10.2025) eine kleine Serie einer ganz anderen Inszenierung von Shakespeares Klassiker der Weltliteratur „Romeo und Julia“. Die Gast-Regisseure Barbara Bürk und Clemens Sienknecht haben Wiliam Shakespeares berühmteste Tragödie in den Kammerspielen nicht etwa entstaubt, sie haben Romeo und Julia mit einem musikalischen Vorschlaghammer bearbeitet - und sie in ein knallbuntes, schrilles Spektakel verwandelt, das ebenso gut auch im Herner Mondpalast hätte laufen können. Der Titel hält, was er verspricht: Romeo und Julia – allerdings mit sehr „neuen“ Texten und auch radikal-schön-anderer Melodie. Diese andere Melodie ist ein wilder Ritt durch die Pop- und Rockgeschichte; eine Ode an die Liebe, die oft so laut und schräg ist, dass man die Tragödie dabei fast vergisst. Die Inszenierung reiht sich ein in die Tradition der musikalischen Theaterabende des Duos Bürk/Sienknecht, die bereits Klassiker wie „Die Hermannsschlacht“ auf ihre ganz eigene, augenzwinkernde Weise neu interpretierten. Das Konzept ist ziemlich einfach und auch deshalb herrlich absurd. Zu sehen ist keine klassische Theateraufführung, sondern anlässlich der Shakespeare-Wochen in Hückeswagen bei Wuppertal („finden nur alle 20 Jahre statt“) eine Aufführung des Kulturvereins aus Kleppersfeld (unter anderem die Pressemappe vergisst dabei ein s und schreibt von Klepperfeld). Die Inszenierung ist natürlich keine klassische Gastspielproduktion, sondern eine eigene Produktion des Schauspielhauses, wenn dies auch ziemlich gut verhüllt wird. Empfohlen wird an dieser Stelle auch der zwölfminütige Einführungs-Podcast. Gleich die erste Pointe sitzt: Das eigentliche klassische Bühnenbild steckt leider fest auf der Autobahn A1 im dicken Stau. Was bleibt, ist eine notdürftig hergerichtete Kulisse, die mit einer Art modernen Wohnhaus so gar nicht ins elisabethanische Zeitalter passen will. Aber genau das ist dann schon der Witz. Die acht wirklich brillianten Darsteller müssen auf typisch barockes Ambiente verzichten und nutzen das moderne Setting als Spielwiese für ihre anarchische Interpretation. Das achtköpfige Ensemble sprüht von der ersten Sekunde an vor Energie, die schon in der Premiere minutenlang bejubelt wurde. Es ist eine spürbare Wucht, mit welcher Spiellaune und mit welchem Elan die Schauspieler in den knapp zwei Stunden - ohne Pause - über die Bühne wirbeln. Sie sind dabei nicht nur Darsteller, sondern Multitalente und Tausendsassa: Schauspieler, Musiker, Tänzer und Komiker. Die Kostüme sind dabei ein Kapitel für sich: Ein wilder, herrlich anzuschauender Mix aus Western-Hemden, Cowboystiefeln, bunten Strumpfhosen und Tutus, das Kostüm-Portfolio in Excellence. Hier wird jede Konvention lustvoll ignoriert, was dem Abend eine befreiende, fast kindliche Anarchie verleiht. Im Zentrum stehen dennoch die beiden tragisch Liebenden: Nina Steils als Julia und Dominik Dos-Reis als Romeo. Ihre Liebe schlägt ein wie der Blitz, doch die Feindschaft ihrer Familien Montague und Capulet steht ihnen im Weg. Aber statt Pathos gibt es dann vor allem Musik - jede Menge. Die Regisseure hatten im Vorfeld ein kleines Geheimnis um die Songauswahl gemacht, aber nun ist ja klar: Es erklingen viele Love-Songs, die man kennt und fast alles, was die Rock- und Popgeschichte hergibt. Von Howard Carpendales „Ti Amo“ über Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ bis hin zu Klassikern wie „I love you Baby“ – die Bühne wird zur Jukebox der großen Liebesgefühle. Die beiden weiblichen Schauspielerinnen überzeugen mit genialen Stimmen; bei den Schauspielherren ist der Unterhaltungswert immer gegeben, bei der Gesangsqualität bleibt manchmal ein bisschen Luft nach oben. Besonders hervorzuheben ist Regisseur und Mitdarsteller Clemens Sienknecht, der in einer der Hauptrollen glänzt und zudem als spaßig-moderierender Conférencier - mindestens so gut wie ein perfekt gelaunter Zirkusdirektor - durch das Stück führt. Seine Optik ist eine perfekt-genüßliche Mischung aus Helge Schneider und Thomas Gottschalk. Sein Solo-Medley, bei dem er am Plastik-Keyboard minutenlang ausnahmslos Lieder anstimmt, in deren Titeln das Wort „Love“ vorkommt, ist ein grandioser, fast schon kabarettistischer Höhepunkt. Es ist ein Moment, der die ganze herrliche Absurdität und den musikalischen Überschwang dieser Inszenierung auf den Punkt bringt. Die Musik ist in dieser Inszenierung weit mehr als nur eine Untermalung. Sie ist der schon gar nicht mehr heimliche Hauptdarsteller, der das Drama kommentiert, konterkariert und stetig vorantreibt. Es ist faszinierend zu beobachten, wie das Ensemble nicht nur die Songs performt, sondern auch die musikalische Begleitung selbst übernimmt. Die Schauspieler schlüpfen immer wieder in andere Rollen, beeindrucken mit eigenwilligen, aber sehr gelungenen Tanz-Choreografien, textlichen Ausflügen in Italienisch, Holländisch oder Spanisch - und greifen dabei selbst zu den Instrumenten. Das gesamte Team tritt auf wie ein perfekt eingespieltes, musikalisches Skurrilorchester-Kollektiv. Die musikalische Bandbreite und die Lieder dienen nicht nur als Zitate, sondern als eine Art emotionale Abkürzungen. Wo Shakespeares Verse lange Erklärungen bräuchten, genügt hier oft ein einziger Akkord oder eine bekannte Melodie, um die Gefühlslage der Protagonisten – oder die Ironie der Situation – perfekt intuitiv auf den Punkt zu bringen. Man könnte fast denken, die Regie nutzt die kollektive musikalische Erinnerung des Publikums, um eine Brücke zwischen der elisabethanischen Tragödie und unserer modernen Empfindungswelt zu schlagen. Ein besonders witziger Moment ist eine Szene auf dem Sofa, wo das Ensemble im Chor agiert, indem es gesanglich jeden Sprung in der aufgelegten Schallplatte und jeden Tempowechsel und Aussetzer des Plattenspielers nachmacht und kongenial vorträgt. Es ist diese Liebe zum Detail, diese spielerische Meta-Ebene, die den Abend zu einem Genuss und vielleicht sogar etwas Unwiderstehlichem macht. Trotz aller Freiheit und dem kontinuierlichem Witz: Die ikonischen Szenen dürfen nicht fehlen – und das tun sie auch nicht. Die berühmte Balkon-Szene und der tragische Gifttod der beiden Liebenden werden nicht vergessen. Doch selbst das eigentlich tragische Finale ist alles andere als klassisch traurig. Die Inszenierung schafft es, den Ausgang lustig zu gestalten, so dass am Ende niemand im Publikum Tränen vergießt. Stattdessen gibt es schon wieder tosenden Beifall und minutenlang stehende Ovationen für ein Schauspiel, das das Zeug zu einem echten Kultstück hat. Die sehr eigenwillige und selbstbewusste Inszenierung von der Regisseure Bürk und Sienknecht ist ein erfrischend mutiges Statement, wie man einen Klassiker neu und modern und dennoch intelligent erzählen kann. Das Drama ist gar nicht bierernst oder zuweilen schwere Kost, sondern eine bunte Folie für eine Revue über die Liebe (und auch Hass), das Scheitern und die wunderbare Musik (war wären wir nur ohne sie?). Es ist auch ein eindrucksvoller Beweis, dass eine Klassik-Tragödie nicht immer original-schwer sein muss, um originell tiefgründig zu sein. Zwei eindrucksvolle Stunden in einer ganz anderen „Welt“. Bitte nicht verpassen, Prädikat: schwer sehenswert. Tickets für die weiteren Aufführungen im Schauspielhaus Bochum (Kammerspiele) kosten zwischen 11,50 und 39 Euro, Ermäßigungen möglich. Erhältlich unter schauspielhausbochum.de. Weitere Termine: