'Das große Heft' erneut in Bochum
Fulminanter Heim-Erfolg für Jette Steckel
Adaptionen des Debütromans „Le grand cahier“ („Das große Heft“) von Agota Kristóf entwickeln sich zum Stück der Stunde, nachdem die Inszenierung Ulrich Rasches und Alexander Weises, die im Februar 2018 am Staatsschauspiel Dresden Premiere feierte, zum 56. Berliner Theatertreffen eingeladen worden ist. Auf Martina van Boxens Fassung am Bochumer Rottstr5 Theater folgte nun die auf einer Übersetzung von Eva Moldenhauer fußende Jette Steckels am Schauspielhaus Bochum, Premiere war am Samstag (1.11.2025). Und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg kommt Karin Henkels Version am Samstag, 15. November 2025 heraus.
Das Leben ist nicht umsonst
Weil ihr Vater seit sechs Monaten als Soldat an der Front kämpft, ihre Heimatstadt bombardiert und die Versorgungslage immer schlechter wird, sind die Zwillinge zur Großmutter aufs Land geschickt worden, die sie nicht gerade herzlich empfängt: „Auch hier ist das Leben nicht umsonst.“ Die auf sich allein gestellten Brüder lernen schnell, eigene (Moral-) Vorstellungen vom Leben zu entwickeln und sich gegen die Zumutungen des Alltags zu stählen – auch körperlich. Denn: „Dach und Nahrung müssen verdient werden.“
Die beiden tragen alle Beobachtungen und Erlebnisse tagebuchartig in ein großes Heft ein, dass sie sich mangels eigener Mittel vom Schreibwarenhändler erbetteln. Sie bemühen sich bei ihren zunächst sehr kindlich-naiv anmutenden Aufzeichnungen um eine präzise Sprache und eine sachliche, persönliche Gefühle ausklammernde Beschreibung der Dinge.
Absolute Selbstkontrolle
Die auf absolute Selbstkontrolle hintrainierenden Brüder werden schneller erwachsen als es ihrer Psyche guttut. Sie müssen harte körperliche Arbeit verrichten, werden Zeugen sodomitischer Handlungen, schließlich Opfer sexueller Gewalt, die sie auch selbst ausüben. Sie lernen zu stehlen und zu erpressen, zeigen bei aller Abgestumpftheit aber auch empathische Regungen. Sie weigern sich, mit der neuen Familie ihrer Mutter ins Ausland zu flüchten und treten in Kontakt mit fremdsprachigen Besatzungssoldaten. Als der Krieg zu Ende geht, begegnen sie unverhofft ihrem Vater – mit tödlichem Ausgang…
„Das große Heft“, 1986 als erster Band einer Trilogie („Der Beweis“ und „Die dritte Lüge“) erschienen und 1987 mit dem Preis des Europäischen Buches ausgezeichnet, wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und 2013 vom ungarischen Regisseur János Szász verfilmt. In ihrem Debütroman erzählt die preisgekrönte Schriftstellerin Agota Kristóf die Lebensgeschichte zweier Brüder, bei der Realität, Fiktion und Lüge nah beieinander liegen. Der Roman ist zugleich eine schonungslos detaillierte, jede moralische Wertung meidende Anti-Kriegs-Geschichte.
Rottstraße hatte Nase vorn
Martina van Boxen, jahrelange Leiterin des Jungen Schauspielhauses Bochum, hatte bei ihrem am 12. April 2025 umjubelten Regiedebüt an der Rottstraße die Entwicklung der von Lea Kallmeier und Alexander Ritter verkörperten Zwillinge ins Zentrum gestellt: „Zwei Kinder die, durch den Ausbruch des Krieges, in eine grausame Welt geworfen werden und dort ums Überleben kämpfen. Die sich jegliches Schmerzempfinden abtrainieren. Sowohl körperlich, als auch psychisch. Die sich Weichheit, Zärtlichkeit und Zuneigung verbieten. Was macht das mit Menschen? Wohin führt das?“
Heim-Spiel an der „Kö“
Jette Steckel, 1982 in Berlin geboren, aber sozusagen in den Kulissen des Schauspielhauses Bochum aufgewachsen, wo ihr im vergangenen Jahr verstorbener Vater Frank-Patrick Steckel von 1986 bis 1995 als Nachfolger Claus Peymanns Intendant war, studierte von 2003 bis 2007 Schauspieltheaterregie an der Theaterakademie Hamburg und als Gasthörerin an der Russischen Theaterakademie GITIS in Moskau.
2007 wurde sie in der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater heute“ zur „Nachwuchsregisseurin des Jahres“ gewählt und im November 2015 mit dem deutschen Theater-Oscar „Der Faust“ ausgezeichnet. Ihre Münchner Tschechow-Aktualisierung „Die Vaterlosen“ war 2024 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Wert auf Werktreue gelegt
Jette Steckel hat bei ihrem am Premierenabend heftig umjubelten ersten Heim-Spiel mit einer fünfköpfigen Besetzung (Pierre Bokma, Guy Clemens, Linde Dercon und Risto Kübar aus dem Ensemble des NT Bochum sowie Ole Lagerpusch als Gast) mit ständig wechselnder Rollenzuteilung vor allem Wert auf Werktreue gelegt.
Florian Lösche (Bühne) und Bernd Felder (Licht) zaubern eine besondere Atmosphäre auf die gewaltige Bühne des Großen Hauses, die Jette Steckels Vater gefallen hätte: Über dem von Neonröhren begrenzten Quadrat eines sehr staubigen Ackers schwebt ein dichter Wald von Metallröhren, die neben den beiden Live-Musikern Matthias Jakisic und Karsten Riedel auch für akustische Akzente sorgen. Die Röhren stehen, gerade wenn sie Schatten auf den Boden werfen, für das Gefangensein der Protagonisten in Zeiten von Gewalt und Krieg.
Die nächsten Aufführungen am Schauspielhaus Bochum
- Sonntag, 2. November 2025, 17 Uhr (10 Euro-Tag)
- Samstag, 29. November, 19:30 Uhr
- Freitag, 12. Dezember, 19:30 Uhr (mit anschl. Publikumsgespräch)
Karten
Karten sind auf der Homepage unter schauspielhausbochum.de und / oder Tel 0234 – 33335555 zu bekommen.
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- Freitag, 12. Dezember 2025, um 19:30 Uhr
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- Sonntag, 2. November 2025, um 17 Uhr