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Herne bereitet sich auf eventuelle Coronafälle vor.

Eine Kolumne von Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey

Sturm auf das Wolkenkuckucksheim

Kaum werden die coronabedingten Restriktionen ein wenig gelockert, da scharren jene, die glauben, etwas davon zu verstehen, aber meist weder medizinisch noch naturwissenschaftlich geprägt sind, bereits mit den metaphorischen Hufen und verlangen die Wiederherstellung aller weltlichen Rechte vor dem Auftauchen dieses heimtückischen Virus. Diejenigen, die vor allem ein wirtschaftliches Interesse haben, schnauben aus geblähten Nüstern und pochen auf Gerechtigkeit, wenn der kleine Buchladen wieder öffnen darf, aber das Warenhaus nicht.

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Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey.

Dabei finden sich AfD und FDP in seltsamer Einigkeit. Ob Christian Lindner, der mit der einstudierten Miene des (Besser-)Wissenden schon eine schnelle Rückkehr zum gewohnten öffentlichen Leben fordert und die Ansicht vertritt, das Land sei über den Lockdown hinaus. Nun müsse darüber gesprochen werden, wie „Gesundheit und Freiheit“ besser miteinander zu vereinbaren seien. Ähnlich Alexander Gauland von der AfD, der behauptet, dass staatliche Einschränkungen nicht mehr erforderlich seien, da die meisten Bürger Vorsicht walten ließen, es also an der Zeit sei, "die Schutzmaßnahmen in die private Verantwortung zu überführen“.

Wolfgang Kubicki (FDP) sieht die verfassungsmäßigen Rechte in Gefahr und vermutet gar, das Grundgesetz lasse den derzeitigen Lockdown nicht zu. Der Karstatt-Kaufhof-Konzern beklagt die Ungleichbehandlung im Verhältnis zu kleinen Geschäften und erwägt, das Verfassungsgericht zu bemühen. Armin Laschet treibt die Sorge um die Wirtschaft und will IKEA und andere Möbelhäuser und Babyfachmärkte öffnen lassen. Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda meint, „die Cranger Kirmes ist zu wichtig für die Stadt und ihre Menschen, als dass wir sie einfach absagen“. Deswegen überlegt er, „ob es „andere Möglichkeiten später im Jahr geben könnte“.

Pressekonferenz am 13.3.2020 im Rathaus. v.l. Stadtrat Dr. Frank Burbulla, Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda und Stadtrat Johannes Chudziak.

Alle überbieten sich mit Strategien, wie man aus der Corona-Krise schnellstmöglich wieder herauskommen kann. Unser aller Kanzlerin platzt der Kragen und sie beklagt „Öffnungsdiskussionsorgien“. Den Ländern hält sie vor, bei der Umsetzung der gemeinsamen Beschlüsse „in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch“ vorzugehen. Dabei dürfte sie besonders an Nordrhein-Westfalen und an ihren Parteifreund Armin Laschet gedacht haben. Die Markus-Söder-Fraktion stimmt ihr zu, andere bezeichnen das als politische Unverschämtheit. Die „AfD“ wirft ihr vor, eine „Basta-Mentalität“ zu offenbaren.

Nur das Virus grinst sich einen und zeigt allen, die auf Recht, Gerechtigkeit, Zumutbarkeit oder wirtschaftliche und soziale Katastrophen verweisen, den Stinkefinger. Es kann nicht lesen oder schreiben, es schaut kein Fernsehen und hört kein Radio. Es hat nur ein Interesse: Sich von jedem milliardenfach vermehren zu lassen, der sich einem Virenmutterschiff, dessen immunologische Besatzung ihm noch nicht den Garaus gemacht hat, auf auf die bekannten 1,50 m nähert. Und es schert sich einen Dreck um Demokratie und Grundgesetz. Es hat dazu noch eine höchst fiese, die Gesellschaft spaltende Eigenschaft: es verschont weitestgehend die junge und gesunde Bevölkerung, während es die Alten und weniger Gesunden gehörig ausdünnt. Da freuen sich die Rentenversicherung, die Krankenversicherung und die Pflegekasse, weil sie weniger „schlechte Risiken“ in ihren Büchern stehen haben.

Die Legende vom Reis auf dem Schachbrett veranschaulicht die Exponentialfunktion: Hier wird aus wenig in kontinuierlichen Schritten sehr viel gemacht.

Was die meisten Schlaumeier aber nicht berücksichtigen, ist die Tatsache, dass der gegenwärtige Zustand aus epidemiologischer Sicht weit gefährlicher ist, als zu Beginn der Seuche. Zwar haben sich die Zahlen der Neuinfizierten deutlich reduziert und die Nettoreproduktionszahl R pendelt sich auf knapp unter 1 ein. Damit hätten wir, falls sich dieser Zustand bei R=1 halten ließe, kein exponentielles, also sich kontinuierlich beschleunigendes Wachstum mehr, sondern nur ein lineares Wachstum. Aber wir haben immer noch ein Wachstum, langsamer zwar, aber dennoch kontinuierlich. Vor allem aber hat sich das Virus flächendeckend über das gesamte Land ausgebreitet.

Hochgerechnet von einer Sterberate von 0,37 Prozent (nach Heinsberg-Studie) hätten wir derzeit knapp 1,5 Mio. Infizierte, etwa 9,5 x mehr als identifiziert. Selbst wenn man davon ausgeht, dass 1 Mio. Menschen die Infektion bereits hinter sich haben, also immun sind, laufen immer noch 500 000 aktive Virenschleudern herum, die sich nicht der Gefahr bewusst sind, die von ihnen ausgeht. Bei R=1 steckt also jeder von diesen ein weitere Person an. Es geistern also permanent 500 000 infektiöse Personen durch das Land. Jede von ihnen kann jederzeit eine neue Explosion der Zahlen auslösen – wenn die soziale Distanzierung nicht konsequent beibehalten wird. Wenn keine Impfung kommt, wird das noch Jahre so weiter gehen.

Wenn also Dr. Frank Dudda glaubt, die Cranger Kirmes könne statt im August dieses Jahres im Oktober stattfinden, befindet er sich genauso im Wolkenkuckucksheim wie all die anderen Träumer, die glauben, wir hätten das Schlimmste bereits hinter uns und könnten jetzt von der Bremse gehen. In eben diesem Wolkenkuckucksheim befinden sich auch die Schweden, die immer den Eindruck vermitteln, sie hätten den Königsweg zur Bewältigung der Krise erfunden. Dort liegt die Covid-19-bedingte Mortalität 3,3 x so hoch wie in Deutschland. Damit sind sie schlechter als die USA (2,2 x im Vergleich zu Deutschland) und kaum besser als die Briten (4,4 x im Vergleich zu Deutschland). Sie müssen eine knallharte Triage, also der Selektion „lohnender“ Beatmungsfälle, betreiben. Ab einem Lebensalter von 80 Jahren werden Patienten mit Covid-19 nicht mehr auf die Intensivstation aufgenommen.

Ich kann mir vorstellen, dass weitere Öffnungen möglich sind. In NRW waren Bau- und Gartenmärkte auch während des Lockdowns geöffnet, ohne dass sie sich zu Hot Spots des Infektionsgeschehens entwickelt hätten. Aber das muss langsam, vorsichtig und unter genauester wissenschaftlicher Beobachtung erfolgen. Sonst fliegt uns die Katastrophe innerhalb kürzester Zeit um die Ohren. Wer glaubt, Großveranstaltungen wie Fußball, Volksfeste, Theater, Kino, Massendemonstrationen, kurz irgendwelche Veranstaltungen, bei denen eine Distanz von 1,50 – 2 Metern nicht garantiert werden kann, könnten vor dem Frühjahr 2021 wieder möglich sein, ist ein realitätsferner Träumer. Dabei ist selbst diese Prognose durchaus sportlich.

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Das Virus ist wie ist und es verhandelt nicht.

| Autor: Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey
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