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Splatter-Spaß in „Trauer ist das Ding mit den Federn“: Anne Rietmeijer und Anna Drexler schenken sich – und dem Publikum – nichts.

Anna Drexler als gefiederte Familientherapeutin

Trauer ist das Ding mit Federn

„Wir waren mittendrin, Lichtjahre entfernt vom Ende“: Die Kleinfamilie in Max Porters 2015 bei Faber & Faber in London erschienenem literarischen Debüt „Grief is the Thing with Feathers“ ist nach dem plötzlichen Tod der Mutter konsterniert. Der händeringende Vater (Risto Kübar) wirkt verloren in Peter Baurs bis auf einen Stuhl, eine Kamera und eine Videowand leergeräumter Bühne des Schauspielhauses Bochum, stellt sich von einem Bein aufs andere. Ganz hinten hocken seine beiden Kinder (Jing Xiang und Alexander Wertmann) auf dem Boden, stumm vor sich hinstarrend.

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Dann setzt sich der Vater auf den Stuhl und spricht direkt in die Kamera. Sein Kopf erscheint in Ganz-Nah-Einstellung auf der Videowand. Nach dem tödlichen Unfall seiner jungen Frau, Mutter von zwei kleinen Kindern, droht er ins Bodenlose zu fallen: Zu jäh, zu unerwartet ist alles verloren gegangen. Da spenden auch keine Beileidsbekundungen der Verwandten und Freunde Trost, keine vorgekochten Mahlzeiten, keine geschmierten Schulbrote für die Kinder.

Den Alltag meistern

„Viele sagten: 'Ihr braucht Zeit‘, in Wirklichkeit brauchten wir Waschpulver, Läuseshampoo, Fußball-Sticker, Batterien, Bogen, Pfeile“: Der Vater, nun allein in der Verantwortung für die Kinder (in der Vorlage sind es männliche Zwillinge), versucht, sich aus seiner Trauerstarre zu lösen, um den Familienalltag meistern zu können. Erschöpft nimmt er in der ersten Parkettreihe Platz und staunt über den Sohn, der auf unbeschwerte Zeiten zurückblickt und, die Notwendigkeit eines neuen Lebens ohne Mama reflektierend, behauptet: „Kein Problem!“ Soweit ist seine hier offenbar jüngere Schwester noch nicht.

Dann tut sich die Bühnen-Rückwand auf. Aus dem Nebelmeer, einem Gemälde Caspar David Friedrichs in der ausgebuchten Hamburger Ausstellung „Kunst für eine neue Zeit“ gleich, schält sich ein gefiedertes, aber sprechendes Wesen (die unvergleichliche Anna Drexler) heraus, das sogleich das Kommando übernimmt – auf den Brettern wie im Parkett. „Die ganze Bude ein Trauerfall, jeder Zentimeter tote Mama“: der mit allen Wassern gewaschene Rabenvogel hat sich die Rettung der Familie auf die Federn geschrieben – wenn nötig, auch mit drastischen Mitteln.

Ironischer Depressionsbekämpfer

Ist es ein Zufall, das der Vater gerade ein Buch schreibt über den Gedichtzyklus „Crow“ („Krähe – Aus dem Leben und den Gesängen der Krähe“) des englischen Schriftstellers Ted Hughes, der hierzulande wohl nur als Gatte von Sylvia Plath bekannt ist? Jedenfalls entpuppt sich das rotzfreche Viech als sehr ironischer Depressionsbekämpfer, das die Schauspieler in ihren Rollen provoziert, sich zum Regisseur aufschwingt und auch das Publikum direkt anmacht: „Gibt’s Fragen?“

Trauerarbeit nach dem Verlust der Mutter: Jing Xiang, Risto Kübar (Vater) und Alexander Wertmann.

Erstmal gibt’s in der Fassung des Regisseurs Christopher Rüping, dessen Züricher Inszenierung „Einfach das Ende der Welt“ von Jean-Luc Lagarce mit Maja Beckmann mehrfach auch in Bochum gastierte, noch eine Person im merkwürdigen Outfit eines Tier-Menschen (Kostüme: Lene Schwind): eigentlich nur ein Nachbar (Anne Rietmeijer), der um Olivenöl und Butter bittet, hier – als Halluzination der Verstorbenen in den Augen des Witwers - Objekt einer warum auch immer splattermäßig ausgewalzten Orgie.

Blut und Hoden zum schenkelklopfenden Gaudium des Publikums: in diesen unseren Kriegszeiten für den angesagten und mit bisher vier Einladungen zum Berliner Theatertreffen, darunter 2022 seine Bochumer Inszenierung „Das neue Leben“, höchst erfolgreichen Regisseur offenbar ein probates ästhetisches Mittel für seine stets zwischen Null und Hundert oszillierenden Produktionen.

Unberechenbare Therapeutin

Die Krähe ist eine höchst unberechenbare Therapeutin, was die Spannung des pausenlosen Bochumer Abends über mehr als zwei Stunden hoch hält: Nachdem sie die Kinder dazu gebracht hat, in Rollenspielen ihre Mutter zu imitieren, löst sich die psychische Blockade der Tochter, die endlich richtig trauern kann. Und den Vater an die schmerzhafte Geburt der Kinder erinnert. Am Ende, unterlegt mit suggestiver sakraler Musik Mozarts, ein versöhnliches poetisches Bild, wie es nur live im Theater seine volle Wirkung entfalten kann…

Max Porter, 1981 in England geborener Kunsthistoriker, langjähriger Buchhändler und heutiger Lektor, erzählt in seinem Roman, den Marcel Reich-Ranicki als Erzählung bezeichnet hätte, vom Versuch einer jungen Familie, nach dem plötzlichen Verlust der Mutter zurück ins Leben zu finden. Er ist ein auch sprachlich höchst ungewöhnliches Trauerbuch, das zur Überwindung derselben aufruft, den Blick nach vorn richtet und vor allem die Liebe feiert.

Tortenschlacht auf Theaterdach

„Trauer ist das Ding mit Federn“ ist mehrfach für die Bühne adaptiert worden, darunter von Enda Walsh. Auf der jetzt auch in Bochum gewählten Basis der Übersetzung von Matthias Göritz und Uda Strätling feierte die Bühnenadaption am 11. Dezember 2021 Deutschsprachige Erstaufführung am Schauspielhaus Düsseldorf. Auf die 80-minütige Inszenierung der Regisseurin Laura Linnenbaum und der Dramaturgin Sonja Szillinsky folgte nun, umjubelte Premiere war am Freitag (15.3.2024), die 130-minütige Fassung Christopher Rüpings.

Die von einer Tortenschlacht auf dem Dach des Bochumer Theaterschiffs über eine Greifvogel-Flugshow bis hin zum mutigen Kampf einer Krähe gegen einen ihr Nest bedrohenden Weißkopfadler mit manch‘ überflüssige Video-Einlagen aufgeplustert worden ist. Von der finalen Ted Hughes-Episode in Oxford, die einmal mehr nur geschildert statt gespielt wird, ganz abgesehen. Unterm Strich bleibt bei diesem ausufernden Spektakel eines Kammerspiels großes, weil scheinbar federleichtes Spiel des koboldartigen Bochumer Ensemblemitglieds Anna Drexler, die das Große Haus an der Königsallee um den kleinen Finger wickelt.

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Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel. 0234 – 33 33 55 55. Die weiteren Aufführungstermine im Schauspielhaus Bochum:

  • Mittwoch, 20. März 2024, 19.30 Uhr
  • Sonntag, 24. März 2024, 17 Uhr
  • Samstag, 6. April 2024, 19.30 Uhr (10-Euro-Tag)
  • Mittwoch, 10. April 2024, 19.30 Uhr
  • Sonntag, 14. April 2024, 17 Uhr
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  • Mittwoch, 20. März 2024, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 24. März 2024, um 17 Uhr
  • Samstag, 6. April 2024, um 19:30 Uhr
  • Mittwoch, 10. April 2024, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 14. April 2024, um 17 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann