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Sex, Drugs and Rock'n Roll: Climax von Gaspar Noe.

Neu im Kino: Climax

Eine junge Frau stolpert durch den Schnee, eine Blutspur hinter sich her ziehend. Sie stürzt, kriecht weiter und bleibt dann erschöpft liegen. Gaspar Noes Höllenfahrt Climax, uraufgeführt beim 71. Internationalen Filmfestival Cannes 2018 und mit dem Hauptpreis der Reihe Quinzaine des Realisateurs ausgezeichnet, beginnt nach diesem kurzen, von Benoit Debie aus der Vogelperspektive gedrehten Prolog – mit dem Abspann. Der argentinisch-französische Regisseur hat damit nach Irreversible (2002) und Enter the Void (2009) bereits zum dritten Mal an der Cote d' Azur für Furore gesorgt, während Love, sein erster 3-D-Streifen, 2015 an der Croisette eher durchfiel. Um es gleich vorweg zu nehmen: Preiswürdig an Climax sind für mich neben unglaublich dynamischen Choreographien ganz unterschiedlicher Tanzstile nur Kamera und Schnitt (Denis Bedlow und Gaspar Noe), die krude Story dagegen absolut nicht.

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21 junge Tänzer, darunter die schon legendäre Breakdancerin und Schauspielerin Sofia Boutella aus Los Angeles als Selva, stellen sich in kurzen, scheinbar improvisierten Bewerbungsvideos vor, die über einen aus der Zeit gefallenen Miniatur-Bildschirm laufen, der von turmhoch gestapelten Videocassetten eingerahmt wird. Sie erzählen, warum sie dabei sein wollen, sprechen über ihr bisheriges Leben und wie sie zu Tanz, Liebe und Drogen stehen. Die Choreographin Emmanuelle (Claude Gajan Maull) will durch den Cast eine Truppe der besten Tänzer Frankreichs zusammenstellen, die zunächst quer durch die Republik tourt bevor sie den Sprung in die USA wagt. Climax beginnt wie eine Dokumentation. Nach drei harten Probentagen in einer ziemlich heruntergekommenen, da offenbar schon seit geraumer Zeit leerstehenden Schule vor den Toren von Paris (gedreht wurde in Vitry) haben sich alle in der Turnhalle zur Generalprobe vor dem Tourstart versammelt. Als DJ Daddy (Kiddy Smile) seine Plattenspieler in Schwung bringt, liefern die Tänzer eine im wahren Wortsinn atemberaubende Choreographie, die so unterschiedliche Stile wie Voguing, Krumping, Waacking und Electro miteinander verbindet, ja sogar bisweilen harmonisch vereint. Das ist auch das Stichwort für die Stimmung in der Truppe, die sich am Buffet Emmanuelles gütlich tut, jede Menge Sangria in sich hineinschüttet und vom Tanzen zur eingängigen Neunziger-Jahre-Mucke von Cerrone über Giorgio Moroder bis hin zu den Rolling Stones einfach nicht genug kriegen kann.

Alles scheint sich nur um Sex zu drehen, und das in allen nur möglichen Varianten. Selva hat alle Mühe, den notgeilen David (Roman Guillermic) auf Abstand zu halten. Nur wenige wie der coole Omar (Adrien Sissoko), der aus religiösen Gründen weder raucht noch trinkt, behalten den Durchblick – und kümmern sich bei Gelegenheit um Tito (Vince Galliot Cumant), Emmanuelles kleinen Sohn, der bei dem Krach natürlich nicht schlafen kann. Omar und Gazelle (Giselle Palmer) kommen sich näher, als ihr eifersüchtiger Bruder Taylor (Taylor Kastle) es tolerieren mag. Bei zunehmendem Alkoholpegel werden die Töne aggressiver, es kommt zu Handgreiflichkeiten. Ekstatische Ausbrüche lassen sich freilich nicht mehr nur mit Alkohol erklären, hier scheinen Drogen im Spiel zu sein. Wer hat sie der Bowle untergemischt? Die allgemeine Enthemmung führt zu schnellen Verdächtigungen, etwa gegen Lou (die Akrobatin Souheila Yacoub) oder den zarten, anlehnungsbedürftigen Homosexuellen Riley (Lakdhar Dridi). Aus den friedfertigen multikulturellen Tänzern wird im Handumdrehen ein entmenschlichter Mob. Emmanuelle hat ihren Sohn im Technikraum eingesperrt und den Schlüssel verloren, Selva versucht das verängstigte Kind durch die verschlossene Eisentür zu trösten. Panik macht sich breit – und ein Horrortrip beginnt, wie zumindest ich ihn auf der Leinwand noch nicht erlebt habe...

Man kann Climax vieles zugute halten. Gaspar Noe hat mit einer Outline von nur einer Seite begonnen, entsprechend gab die kalifornische Choreographin Nina McNeely nur die erste Szene vor. Ansonsten hatten die Tänzer alle Freiheiten, den 95-minütigen Low-Budget-Film mit eigenen Ideen zu füllen. Und auch für den belgischen Kameramann Benoit Debie gab es nur eine Regel: so schnell wie möglich und in langen Einstellungen drehen. Das Ensemble, zu dem auch der beeindruckende Kontorsion-Artist Strauss Serpent aus Kamerun gehört, ist phantastisch und macht uns nicht zuletzt mit modernen Stilrichtungen der Ballroom-Szene bekannt, wie wir sie teilweise schon aus den jährlichen Tanzwettbewerben in den Herner Flottmannhallen kennen. Gegen den Strich gehen mir die gefühlt minutenlangen tumben Macho-Sprüche, die nach oben offene Gewaltspirale einer nach Acid-Konsum vollkommen enthemmten Gruppe junger Leute, die offenbar nur für die Selbstoptimierung ihrer Körper Interesse zeigen und jegliche Empathie für den Nächsten verloren haben. Als der eingesperrte Tito aus purer Verzweiflung den Sicherungskasten öffnet und einen Stromschlag auslöst, an dem der Junge stirbt, haben DJ Daddy & Co nichts anderes zu tun, als einen batteriebetriebenen Ghettoblaster zu holen, damit die Fete weiterläuft.

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Climax, ab 6. Dezember 2018 in unseren Kinos und hierzulande unter anderem im Metropolis Bochum, ab Freitag, 7. Dezember 2018, zu sehen, erzeugt verführerisch schöne Bilder – und gleichzeitig blankes Entsetzen, das, so wollen es uns manche Kritiker weismachen, politisch grundiert ist nach Front National-Erfolgen, Rassenhass und Banlieu-Barrikadenkampf. Das Entsetzen hätte ich mir gerne erspart.

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  • Freitag, 7. Dezember 2018, um 20:15 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann