
Neu im Kino
Meinen Hass bekommt ihr nicht
Paris. 13. November 2015. Ein ganz normaler Morgen. Der Autor Antoine Leiris (Pierre Deladonchamps) und seine Frau, die Visagistin Hélène (Camélia Jordana), erhalten gerade unpassenden Besuch von ihrem 17 Monate alten Sohn Melvil (Zoé Iorio), der sein Kuscheltier Tomtom sucht. Während Hélène gut gelaunt mit dem Auto quer durch Paris zur Arbeit fährt, führt Papa Antoine seinen kleinen Sohn im Kinderwagen aus. Tauscht sich mit dem Vater (Léonard Berthet-Rivière) des gleichaltrigen Maxime aus und gönnt sich in der Trafik gegenüber eine Auszeit, wo zahlreiche Gäste dem Fußball-Länderspiel der Equipe tricolore gegen Deutschland entgegenfiebern.
Am Morgen hatte er sich noch mit Hélène über den geplanten Korsika-Urlaub gestritten, weil sie zu der Zeit einen für sie wichtigen Auftrag als Maskenbildnerin erhalten hat. Nun freut sich Antoine für seine Gattin, die vom gemeinsamen Freund Bruno (Yannuk Choirat) zum Rock-Konzert der Eagles of Death Metal im Club Le Bataclan abgeholt wird. Es wird das letzte Mal sein, dass er seine Frau lebend gesehen hat.
Melvil ist nach einer Gutenachtgeschichte längst eingeschlafen, als eine SMS Antoine aufschreckt: „Ist alles ok? Seid ihr in Sicherheit?“. Draußen sind Polizeisirenen zu hören. Im Fernseher läuft statt Fußball eine Sondersendung. In der von Explosionen die Rede ist, von einem Terroranschlag gar. Und von einem Attentat im Le Bataclan. Von vierzig Toten ist die Rede, später von über hundert. Antoine erreicht nur Hélènes Mailbox, auch Bruno geht nicht ans Handy.

Er klappert alle Kliniken ab, während sich Hélènes Schwester Annie (Anne Azoulay) daheim nützlich macht und Melvil zu trösten versucht, der nach seiner Mama ruft. Auch die anderen Familienmitglieder wie Alexandre (Thomas Mustin), Sylvie (Farida Rahouadj) und Julie (Christelle Cornil) sind zugegen, als am anderen Morgen die Todesnachricht eintrifft. Das Chaos in der Wohnung entspricht dem Chaos draußen in der Stadt. Erst allmählich wird das Ausmaß des islamistischen Terroranschlags deutlich – auch für Antoine. Der Melvil das Frühstück zubereitet und ihn in die Kita bringt, bevor er Hélène im Leichenschauhaus identifiziert.
Hass? Angst? Misstrauen? Die Freiheit opfern für mehr Sicherheit? „Am Freitagabend habt ihr das Leben eines ganz besonderen Menschen gestohlen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht ...“: Antoine postet seine Gedanken auf Facebook und löst eine globale Welle von Sympathiekundgebungen aus. Und enormes mediales Interesse. Die Tageszeitung „Le Monde“ druckt seinen offenen Brief auf der Titelseite, Fernsehstationen aus allen Erdteilen wollen Interviews.
Aber daheim stecken immer noch drei Zahnbürsten im Glas unterm Badspiegel, hängen Hélènes Kleider im Schrank. Auch die Kita-Mütter (Maelle Giovanetti Metzger, Marie Burchard und Anaïs Dahl), die ihn täglich wechselnd mit warmen Mahlzeiten versorgen, erinnern ihn stets an den großen Verlust. Schließlich die Beerdigung: Antoine ist entnervt, überfordert. Und Schwägerin Annie sieht gerade im Hinblick auf Melvil den ganzen an Heldenverehrung grenzenden Rummel kritisch.
Um vier Uhr nachts klingelt ihn Bruno aus dem Bett. Weil er überlebt hat, sich schuldig fühlt und ihm Antoine bisher stets ausgewichen ist. Der traumatisierte Freund schildert die Nacht im Bataclan aus seiner Sicht, was Antoine nicht wirklich weiterhilft: Er driftet ab, trinkt zuviel Alkohol, kann seinem Beruf als Autor nicht mehr nachkommen. Was der kleine Melvil natürlich mitbekommt. Antoine muss zur Ruhe kommen, verspricht am Grab Hélènes, sich eine neue Wohnung zu suchen – und dennoch jetzt den Korsika-Urlaub anzutreten – wenn auch nur zu zweit…
In „Vous n’aurez pas ma haine“ erzählt Kilian Riedhof nach dem gleichnamigen autobiographischen Bestseller des Pariser Journalisten Antoine Leiris die Geschichte der verheerenden Pariser Anschläge aus der sehr persönlichen Perspektive eines Vaters im Ausnahmezustand. Der beinahe an seiner Verzweiflung zerbrochen wäre trotz oder gerade wegen der medialen Welle, die er mit seinem zu Herzen gehenden Brief an die Terroristen ausgelöst hat. Zur Klasse-Besetzung dieses sehr intimen Seelendramas gehört auch das Bochumer Ensemblemitglied Gina Haller, gerade erst in der Kategorie „Arriviert“ vom Freundeskreis des Schauspielhauses mit dem Bochumer Theaterpreis ausgezeichnet, in der Episodenrolle einer Psychologin.
Uraufgeführt am 12. August 2022 beim 75. Int. Filmfestival Locarno startet der 2020 mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Hundertminüter nach der Deutschen Erstaufführung am 4. Oktober 2022 beim Filmfest Hamburg nun am 10. November 2022 in unseren Kinos, bei uns zu sehen im Capitol Bochum und im Eulenspiegel Essen.