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Baurzhan Anderzhanov (Raimondo Bidebent), Hila Fahima (Lucia Ashton), Opernchor des Aalto-Theaters.

Belcanto-Fest im Aalto-Theater Essen

Lucia di Lammermoor

Belcanto vom Feinsten mit einer Wahnsinnspartie im wahren Wortsinn, welche einst den Weltruhm von Maria Callas begründete: Gaetano Donizettis am 26. September 1835 im Teatro di San Carlo in Neapel uraufgeführtes Dramma tragico „Lucia di Lammermoor“ spielt wie die literarische Vorlage, der Roman „The Bride of Lammermoor“ von Sir Walter Scott aus dem Jahr 1819, in Schottland, wo die Adelsfamilien Ravenswood und Ashton in blutiger Familienfehde leben.

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Was in der Ausstattung von Johannes Leiacker (Bühne) und Gesine Völlm (Kostüme) der am Essener Premierenabend des 27. November 2021 völlig zu Recht mit stehenden Ovationen gefeierten Inszenierung Dietrich W. Hilsdorfs jedoch keine Rolle spielt. Zeitlich verortet zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer strengen Schwarz-Weiß-Optik samt einem Fries vertikaler Neonröhren fokussiert die Inszenierung, auch durch unmittelbare Eingriffe ins Figurenarsenal, auf den aussichtslosen Kampf einer Frau gegen familiäre Machtstrukturen. So wird aus Alice, der Vertrauten Lucias, ihre gerade verstorbene, in der einleitenden Trauerfeierszene dem Sarg entsteigende Mutter Lady Alisa Ashton, die fortan ihre Tochter als empathieloser Schatten verfolgt.

v.l. Carlos Cardoso (Sir Edgardo di Ravenswood), Baurzhan Anderzhanov (Raimondo Bidebent).

Beinahe eine Romeo-und-Julia-Geschichte: Edgardo Ravenswood (auf offener Bühne gefeiert: Aalto-Tenor Carlos Cardoso), der letzte Überlebende seiner Familie, der nach der Ermordung seines Vaters durch Enrico Ashton (der junge russische Bariton Ivan Krutikov) von seinem Besitz vertrieben wurde, und Enricos jüngere Schwester Lucia (ein Ereignis: Hila Fahima) lieben sich nach einem Zwischenfall im Park. Diese ist vom Familienoberhaupt Edgardo aber längst dem so wohlhabenden wie politisch einflussreichen Arturo Buklaw (Dmitry Ivanchey) versprochen worden, der nach der Beerdigung der Mutter mit den Hochzeitsvorbereitungen beginnt.

In diese platzt Edgardo, um mit Enrico Frieden zu schließen und um die Hand seiner Schwester anzuhalten. Bevor er Schottland für einige Zeit verlassen muss, verloben sich die Liebenden mit Ringen. Zum vereinbarten Austausch von Briefen kommt es nicht, weil diese von Enrico und dem ältesten Bruder, dem Geistlichen Raimondo Ashton (Rollendebüt für Aalto-Bass Baurzhan Anderzhanov), der stets mit einer demonstrativ rot eingebundenen Bibel erscheint, abgefangen wurden. Und nicht nur das: ein gefälschtes Schreiben lässt Lucia glauben, Edgardo habe in der Fremde eine andere Frau geheiratet. Raimondo, im Libretto Salvadore Cammaranos der Kaplan Bidibent, zieht seine Schwester zu sich auf seinen Schoß und beschwört sie, sich zum Wohl der bankrotten Familie zu opfern. Was diese mit einer demonstrativ gelangweilten Teelöffel-Szene quittiert.

Kaum hat Lucia, ohne einen Blick darauf zu werfen, den Heiratsvertrag unterschrieben, der für sie einem Todesurteil gleichkommt, kehrt Edgardo zurück – und fühlt sich betrogen. Beide Ringe landen – durch die Untote Lady Ashton - in einem Brunnen, welcher in der Vorgeschichte der Familie Ravenswood bereits eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Während sich die frisch Angetrauten zur Hochzeitsnacht zurückziehen, verabreden sich Enrico und Edgardo nach einer heftigen, nicht nur verbalen Auseinandersetzung zum Duell im Morgengrauen – und scheiden bei Hilsdorf als weinselige Kumpane.

Gerade hat Raimondo die Nachricht überbracht, Lucia habe im Brautbett ihren Gatten erstochen, da erscheint diese mit großem rotem Blutfleck auf weißem Hochzeitskleid unter den verbliebenen Gästen: Nun ist die dem Wahnsinn Verfallene endlich zur Eheschließung mit Edgardo bereit. Welche aber nach Lage der Dinge nicht in dieser Welt stattfinden kann, weshalb sie in einer anderen auf ihren Geliebten warten will. Was, nach drei szenisch, darstellerisch, sängerisch und musikalisch (ein ungemein agiler Giuseppe Finzi am Pult im Graben) beglückenden Stunden, nicht lange währt: Um im Himmel wieder mit ihr vereint zu sein, tötet Edgardo sich selbst…

Hilsdorfs Donizetti-Inszenierung ist, mit der Russin Venera Ginadieva als Lucia und Edgaras Montvidas als Edgardo, bereits am 18. November 2017 in der derzeit coronabedingt geschlossenen Dresdener Semperoper herausgekommen – und hat wahrlich keine Patina angelegt. Was natürlich auch an der Essener Neubesetzung liegt, allen voran der der Titelpartie: Als Lucia debütiert die aus Israel stammende Sopranistin Hila Fahima. Nachdem sie bereits mit 22 Jahren zum Ensemble der Deutschen Oper Berlin gehörte, wechselte sie anschließend als Ensemblemitglied zur Wiener Staatsoper unter anderem als Königin der Nacht in Mozarts „Zauberflöte“, eine Rolle, in der sie auch bereits am Aalto-Theater brillieren konnte.

Ein großes Lob nicht zuletzt dem Opernchor, der im zweiten Teil aus dem 3. Rang für einen grandiosen Raumklang sorgt nach einem außerordentlichen Koloratur-Duett zwischen Hila Fahima und dem Glasharfinisten Philipp Marguerre: In der am Aalto-Theater aufgeführten ursprünglichen Fassung Donizettis kommt neben der Soloharfe (Gabriele Bamberger) in der berühmten Wahnsinnsszene eine in der Aufführungstradition häufig durch eine Flöte ersetzte Glasharmonika zum Einsatz, welche der Sopranstimme schneidend-klare Klänge entgegensetzt.

„Mors certa, hora incerta“ steht in Versalien auf dem Souffleurkasten an der Rampe: „Gewiss ist der Tod, ungewiss ist die Stunde“. Hilsdorfs Inszenierung wartet mit einigen Schauerdrama-Effekten wie den grüngesichtigen Shakespearschen Hexen aus „Macbeth“ auf, ist aber vor allem in kleinen Gesten und Verweisen stark. So geht die um den Sarg der Lady versammelte Trauergesellschaft im Hause Ashton, zu der auch ein Windhund der Rasse Greyhound gehört, nahtlos zur Hochzeitsfeier über, in der die vier blumenbekränzten Brautjungfern Lucias am bitteren Ende lethargisch am Weinglas nippen.

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Die weiteren Vorstellungen im Essener Aalto-Theater: Am 2., 11. und 19. Dezember 2021; am 8. und 28. Januar 2022; am 9. und 26. Februar 2022 sowie am 4. und 24. März 2022. Karten sind erhältlich im TicketCenter Essen , II. Hagen 2, an der Kasse des Aalto-Theaters, Opernplatz 10, unter Tel 02 01 - 81 22 200 sowie online unter theater-essen.de.

| Autor: Pitt Herrmann