
Von der Kapitalistin zur Eremitin
Kino-Tipp 'Chaos und Stille'
Jean (Anton von Lucke) ist ein Komponist, der die Stille künstlerisch erforschen und dann auch darüber schreiben will. Sein Arbeitsgerät sind so genannte Noise-Cancelling-Kopfhörer, die mit integrierten Mikrofonen den Schall von außen aufnehmen, der dann über einen Verstärker mit gegenpoligem Signalverlauf erheblich abgeschwächt wiedergegeben oder sogar ausgelöscht wird. Was man in der Fachsprache destruktive Interferenz nennt.
Seit seine Frau, die Konzertpianistin Helena (Maria Spanring), die äußerst lebendige gemeinsame Tochter Hannah zur Welt gebracht hat, ist es auch über ihre notwendigen täglichen Übungsstunden hinaus mit der Stille daheim vorbei, der Nutzschall nähert sich zunehmend dem Störschall, um im Fachterminus zu bleiben. Was das Zusammenleben der kleinen Künstlerfamilie nicht leichter macht: Von ihrer Musik können sie nicht leben, und zu dritt schon gar nicht.
Geschenk des Himmels
Weshalb es ihnen wie ein Geschenk des Himmels vorkommt, als ihre Vermieterin Klara (Sabine Timoteo) ihnen die Miete erlässt. Die gut situierte Besitzerin des Miethauses hat beschlossen, ihrem Leben eine radikale Wendung zu geben: Sie hat ihren lukrativen Job gekündigt, will ihr Hab und Gut verschenken und künftig auf dem Dach leben. Und das bei Sonne und Regen, Sommer und Winter.
Dieser höchst rätselhafte Ausstieg aus der Konsum- und Leistungsgesellschaft, von der Klara bisher nur profitiert hat, spricht sich bald herum und lockt allerhand mehr oder minder esoterische Sinnsucher an, die nun die verwaiste Wohnung bevölkern und über Gott, die Welt und den Sinn des Lebens diskutieren. Die Verwandlung der überzeugten Kapitalistin zur stummen Eremitin provoziert Befürworter, die Klara wie eine neue Heilsbringerin verehren, und Gegner, die ihre Einweisung in eine geschlossene Anstalt fordern.

Und ruft auch Fanatiker auf den Plan – einerseits. Andererseits inspiriert Klaras Ausstieg Jean zu einer Komposition über die Stille und Helena entdeckt ihre soziale Ader. Das Leben der Künstlerfamilie droht dennoch in ein Chaos zu münden, weil sich Klara immer mehr zurückzieht…
Radikale Sinnsuche
Anatol Schuster erzählt in „Chaos und Stille“ so realitätsnah wie poetisch und mit einer sehr wohltuenden Dosis Ironie von einer radikalen Sinnsuche und den Irritationen, die sie auslöst - und stellt dabei klug unseren Begriff von Normalität infrage. Gedreht vom 10. Oktober bis 19. November 2022 in Darmstadt, wohl nicht zufällig Anatol Schusters Geburtsstadt, ist die 88-minütige Tragikomödie mit einer Klasse-Besetzung und der sehr atmosphärischen Musik von Henrik Ajax am 12. Oktober 2024 beim Filmfestival Warschau uraufgeführt und mit dem Preis für „Beste Regie“ ausgezeichnet worden.
Der Deutschen Erstaufführung am 22. Januar 2025 beim Festival um den Max Ophüls Preis in Saarbrücken folgt nun der Kinostart am Donnerstag, 5. Juni 2025, bei uns zu sehen im Casablanca Bochum, im Sweetsixteen Dortmund, in der Galerie Cinema Essen und im Metropol Düsseldorf.
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- Donnerstag, 5. Juni 2025