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Jauchzet, frohlocket! - Noch einmal Dario Fo in Bachs Weihnachtsoratorium - mit „Der Kindermord von Bethlehem“.

Ein etwas anderes Weihnachtsoratorium

'Jauchzet, frohlocket!'

Als Johann Sebastian Bach 1723 den vergleichsweise prestigeträchtigeren Posten des Köthener Hofkapellmeisters aufgab, um als Leipziger Thomas-Kantor in städtische Dienste zu treten, legte er sich in den ersten Jahren einen Vorrat an geistlichen Kantaten an, wobei seine Kompositionen auch bei weltlichen Ereignissen aufgeführt wurden, etwa vom studentischen Collegium Musicum, das Georg Philipp Telemann einst gegründet hatte. Zehn Jahre später reifte der Plan, Oratorien für die großen Festgottesdienste im Laufe eines Kirchenjahres wie etwa Himmelfahrt und Ostern zu schreiben.

Bachs weltweit bekanntestes und populärstes Werk, das „Weihnachtsoratorium“ von 1735, ist im eigentlichen Sinne gar kein Oratorium wie etwa seine grandiose „Matthäus-Passion“. Sondern eine Folge von sechs einzelnen Kantaten, verfasst für die drei Weihnachts-Gottesdienste sowie das Fest der Beschneidung Christi, den ersten Sonntag nach Neujahr und das Epiphaniasfest. Erst Jahrhunderte später hat sich die etwa zweieinhalbstündige Aufführung des kompletten Weihnachtsoratoriums speziell in der Adventszeit eingebürgert. Auch sich nicht als gläubige Christen empfindende Menschen lauschen auf harten Kirchenbänken dieser wahrhaft überirdischen Musik – vielleicht als Erinnerung an die Geborgenheit der eigenen Kindheit oder als Hort der Kontemplation in der kommerziell geschürten Hektik der Vorweihnachtszeit.

Jauchzet, frohlocket! - Daniel Jeroma als Bonifatius VIII. in der gleichnamigen Episode aus Dario Fos „Mistero buffo“.

Die Sessel im MiR-Parkett sind deutlich komfortabler, aber wer jetzt zu „Jauchzet, frohlocket!“ an den Gelsenkirchener Kennedyplatz kommt in der Erwartung, „Das Weihnachtsoratorium von J.S. Bach mit Werken von Carl Orff, Arvo Pärt, Hanns Eisler und Dario Fo“ zu erleben, wie es in der Ankündigung des Musiktheaters im Revier heißt, sieht sich mit einer etwas anderen Weihnachtsgeschichte konfrontiert: Mit ihrer nach drei herausfordernd-spannenden Stunden am Premierenabend des 4. Dezember 2021 heftig umjubelten Version wollen die Dramaturgin Anna-Maria Polke und der regieführende Intendant Michael Schulz ein von manchen sicherlich kontrovers aufgenommenes, aber stets diskussionswürdiges „Zeichen für eine heterogene Gesellschaft und für Diversität“ setzen.

„Wenn es einen Messias gäbe, wie sähe er aus?“ wurden Gelsenkirchener Bürger aller Altersstufen gefragt. Gegenfrage: Muss es im gendergerechten Neusprech wirklich „das Erlöser“ heißen? Solche Antworten, auf eine Videowand übertragen, bilden den Prolog des ersten Teils, der mit dem höllischen Wetterzauber bajuwarischer Hexen, Abkömmlinge der alpenländischen Perchten aus Carl Orffs 1960 in Stuttgart uraufgeführtem „Wundersamem Spiel von der Geburt des Kindes“, gleich ein erstes Ausrufezeichen gegen die Publikumserwartung setzt.

„Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!“: Der skurril kostümierte Chor (Bühne: Martina Feldmann und Michael Schulz, Kostüme: Renée Listerdal) trägt endlich den Beginn der ersten Kantate vor, während sich der Chorleiter Alexander Eberle am Pult des erhöhten Grabens müht. Zur Festgesellschaft gesellen sich, aufgefordert vom Evangelisten (in der Erzähler-Rolle: Adam Temple-Smith), die schwangere Maria und ihr Mann Joseph als „Fremde Frau“ (Bele Kumberger) und „Fremder Mann“ (Philipp Kranjc). Das Fahrrad der offenbar Fremden, vielleicht Asylsuchenden, dass deren wenige Habseligkeiten trägt, wird sogleich mit Geschenkpaketen zugestellt: Stimmt schon, das Fest der Geburt Jesu ist heute zur reinen Geschäftemacherei verkommen.

Jauchzet, frohlocket! - Bethlehemer Krippe mit lebendem Inventar (v.l.): Adam Temple-Smith, Philip Kranjc, Bele Kumberger, Etienne Walch und Almuth Herbst.

Stimmt schon – das gilt auch für die beißend-satirische Kritik des italienischen Anarcho-Kommunisten und Literatur-Nobelpreisträgers Dario Fo am von der christlichen Botschaft völlig abgekoppelten selbstherrlichen Papsttum, die sich in der Episode „Bonifatius VIII“ aus seiner Sammlung „Mistero buffo“ ausdrückt: den eitlen Stellvertreter Gottes auf Erden verlangt es nach immer neuen, protzigeren Kleidungsstücken. Warum Michael Schulz meint, diese selbsterklärende Szene mit Lachern des Chores, wie wir sie aus billigen TV-Shows her kennen, flankieren zu müssen, bleibt mir ein Rätsel.

Stimmt schon – das passt auf so gut wie alle weiteren Zutaten, die den Fluss der Bachschen Weltmusik unterbrechen. Hanns Eislers „Lied von der Moldau“ war eine der Hymnen des 1968er Aufbruchs an den Lagerfeuern weit über Deutschland hinaus. Was aus dieser Bewegung geworden ist, lässt Bele Kumberger ab- und schließlich in Tränen ausbrechen. Sie steuert wenig später noch Brechts „Wiegenlied einer proletarischen Mutter“ bei: „Als ich dich gebar, schrien deine Brüder/Schon um Suppe und ich hatte sie nicht…“ Es gibt auf der Welt nicht zweierlei Menschen, aber Biedermeier-Weihnacht mit Engelkitsch und Kriegsspielzeug auf dem Gabentisch. „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ heißt es in Lukas 2,14: Ein Junge erschießt mit dem Geschenk seine kleine Schwester. Und die beiden „Fremden“ werden als lebende Figuren eines Krippenspiels, dessen Sinn sie nicht verstehen, missbraucht unter dem Deckmantel der Integration.

Der musikalische Teil dieser bisweilen holprigen Melange von Schauspiel, Gesang und Puppentheater überzeugt freilich im Graben und mehr noch auf den Brettern, neben der unprätentiös-zuverlässigen Almuth Herbst ragen mit der Sopranistin Mercy Malieloa und dem Countertenor Etienne Walch zwei Mitglieder des Opernstudios Nordrhein-Westfalen heraus.

Die nächsten Vorstellungen: Am 11. und 17. Dezember 2021 (jeweils um 19:30 Uhr), am 25. Dezember 2021 (18 Uhr) und am 30. Dezember 2021 (19:30 Uhr) sowie am 2. Januar 2022 (18 Uhr), 8. Januar 2022 (19.30 Uhr), 23. und 30. Januar 2022 (jeweils um 18 Uhr), Karten unter musiktheater-im-revier.de oder Tel 0209 – 4097 200.

Montag, 6. Dezember 2021 | Quelle: Pitt Herrmann