Hohe Abschulungszahlen in Herne befürchtet
Carsten Piechnik, Mitglied des Vorstandsvorsitzenden- Teams der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)- Herne, nimmt im Namen der Gewerkschaft Stellung zu den Abschulungszahlen in Herne: Die GEW Herne befürchtet zum Ende des Schuljahres erneut hohe Zahlen von abgeschulten Kindern (darunter auch viele Seiteneinsteiger), also von Kindern, die Schulen des gegliederten Systems, also Gymnasien und Realschulen, verlassen müssen.
Nachdem in Herne im vergangenen Sommer bereits circa 180 Schüler vor allem die Realschulen und Gymnasien in Herne verließen und größtenteils von Gesamtschulen aufgenommen wurden, kündigen sich zum Ende dieses Schuljahres erneut hohe Zahlen Abschulungen an. Im vergangenen Jahr führte dies bereits zu gravierenden Problemen, auf die die GEW Herne hingewiesen hatte und die sie jetzt erneut in den Fokus stellt.
In der Logik des gegliederten Schulsystems sollen Kinder eine für sie „passende“ Schulform besuchen, die in Form der Hauptschulen „eine grundlegende allgemeine Bildung“, in Form der Realschulen „eine erweiterte allgemeine Bildung“ und in Form der Gymnasien „eine vertiefte allgemeine Bildung“ vermitteln soll. Für die hohe Zahl der Kinder, die nun die Schulen verlassen sollen, steht in Aussicht, dass sie den Schulabschluss der entsprechenden Schulform nicht schaffen werden und ihn daher an einer anderen Schulform erwerben sollen.
Die Gründe aus Sicht der GEW:
Die Aufgabe der Grundschulen, Kinder bestmöglich auf die weiterführenden Schulformen vorzubereiten, kann unter den gegebenen defizitären systemischen Voraussetzungen nicht gelingen: Unter der Vorgabe der individuellen Förderung, der Inklusion, der Integration von Seiteneinsteigerkindern bei unzureichender Ausstattung mit Lehrkräften und Sonderpädagogen findet nach wie vor eine zu frühe Selektion durch die abschließende Schulformempfehlung statt.
Die über die Abschulung vorwiegend leistungsorientierte Selektion von Schülern geschieht gleichzeitig zum Inklusionsgedanken, der aber bedeutet, dass allen Menschen die gleichen Chancen und Rechte zustehen an Teilhabe in der Gesellschaft, und zwar ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Geschlechts und auch zum Beispiel ihrer eventuellen Behinderung. Die Landesregierung hat durch die aktuellen Regelungen den Gedanken der Leistungs- Selektion dem der Inklusion deutlich übergeordnet. Gymnasien sind in vielen Fällen generell und in den meisten anderen Fällen von Inklusion faktisch ausgenommen (worden).
Für die anderen Schulformen bedeutet dies, dass sie ein eigentlich gesamtgesellschaftliches Phänomen alleine bearbeiten sollen – gleichzeitig aber zu dem auch an integriert arbeitenden Schulformen geltenden Leistungsgedanken berücksichtigen müssen (auch Gesamtschulen vergeben zum Beispiel das Abitur). Dieser Widerspruch ist letztlich nicht aufzulösen und stellt die betroffene Kollegen vor unlösbare Aufgaben. Die Abschulungen geschehen zu Lasten der Bedingungen an den aufnehmenden Hauptschulen und den Gesamtschulen. Gerade hier wären aber, auch aufgrund der nahezu allein von diesen Schulformen zu bearbeitenden massiven Herausforderungen der Inklusion und Integration, bessere Bedingungen absolut notwendig – das Gegenteil ist der Fall.
Die Kommunen stehen vor der Herausforderung, dass die aufnehmenden Schulen oft bereits vollständig voll sind. Klassen mit 32 oder 33 Kindern kommen vor, Räume sind nicht mehr vorhanden und trotzdem „sind die Kinder nach den Ferien da“. In vielen Kommunen hat dieses Problem zum Aufstellen von Not- Containern auf den Schulhöfen als Unterrichtsräumen geführt – auch hier ist man sehr oft weit entfernt von guten Lern- und Arbeitsbedingungen. In vielen Kommunen in NRW und an vielen einzelnen Schulen hat dies in der Vergangenheit dazu geführt, dass sich bei allen Beteiligten eine Kultur des Behaltens von Kindern ausgebildet hat, also ein Gegenentwurf zum Abschulen. Geschieht dies nicht noch durchgängiger, wäre die einzige Lösung das weitere Aufstellen von Not- Containern in zweiter und dritter Reihe.
Die grundsätzlich oft bessere Bezahlung von Lehrern an Gymnasien (Einstiegsbesoldungsamt A13 für alle, an vielen anderen Schulformen großteils oder ausschließlich lediglich A12) führt zur Zeit dazu, dass dort Lehrerstellen weitgehend besetzt werden können, während an anderen Schulformen in Zeiten des Lehrermangels Stellen oft nicht besetzt werden können. Zu den oben genannten Bedingungen kommt also besonders dort das Fehlen von Lehrern und Sonderpädagogen hinzu, wo die Inklusions- und Integrationsarbeit in größtem Umfang geleistet wird – dies führt zahlreiche Kollegien an die Grenzen des Machbaren und darüber hinaus.
Als vielleicht gewichtigstes Problem erscheint für die GEW Herne die Folge von Abschulungserfahrungen für die betroffenen Kinder und schließlich auch für die Gesamtgesellschaft. Kinder nach mehreren Jahren aus ihrem Freundeskreis und wichtigen sozialen Bezügen heraus zu lösen und ihnen faktisch durch eine Abschulung zu vermitteln „Du bist hier falsch“ („weil Deine Leistungen nicht genügen“) ist in sehr vielen Fällen eine tränenreiche und gravierende Scheiterns- Erfahrung. Zahlreiche Theorien der Identitätsbildung oder z.B. der Entstehung von Einsamkeits-, Aggressions-, Extremismus- oder Suchttendenzen sehen in solcherart Desintegration gerade junger Menschen schwerwiegende Auslöse- Risiken.
Aus dieser Perspektive heraus leistet unser Schulsystem gesellschaftlichen Entwicklungen Vorschub, die niemand wollen kann. Verstärkend kommt hinzu, dass das Schulsystem aufgrund oben beschriebener ungleicher Chancenverteilung einer Spaltung der Gesellschaft in „die, die es geschafft haben“ auf der einen und Verlierer auf der anderen Seite tendenziell Vorschub leistet – dies beschreiben zahlreiche Schulleistungsstudien sowie Soziologen und Pädagogen seit Jahren.
Die GEW Herne fordert daher:
Eine Ausstattung von Schulen mit ausreichenden Ressourcen – und diese orientiert auch an Anforderungen der einzelnen Schule: Besonders herausfordernde Schul- Bedingungen bedürfen der besonders guten Ressourcen.
An allen Schulformen die Möglichkeit, auch andere als die dort höchstmöglichen Schulabschlüsse zu vergeben, damit Abschulungen gar nicht mehr nötig sind und den Kindern schwerwiegende Scheiterns- und Desintegrations- Erfahrungen erspart bleiben.
Die Auflösung der Widersprüche zwischen Inklusion und Selektion sowie zwischen Individualisierung und Standardisierung. Wir glauben, es muss sich dringend entschieden werden, was wir gesellschaftlich in Deutschland wollen – wenn es Inklusion und Integration ist, müssen Schule und das Schulsystem grundlegend anders gedacht werden.