
Minetti-Preis für Maja Beckmann
Einfach das Ende der Welt
Nach mehrfachen coronabedingten Terminverschiebungen war es jetzt endlich soweit: Vor naturgemäß ausverkauftem Haus gab es an der Bochumer Königsallee ein herzliches Wiedersehen mit Christopher Rüping, dessen Bochumer Uraufführung „Das neue Leben“ sich zum Repertoire-Renner entwickelt hat und weiterhin auf dem Spielplan steht, und mit der Hernerin mit Maja Beckmann, die am Schauspielhaus Bochum als Elevin begann und danach viele Jahre dem Ensemble angehörte.
Für ihr Spiel u. a. in „Einfach das Ende der Welt“, die restlos ausverkaufte Zürcher Produktion gastiert im März 2023 erneut in Bochum, ist Maja Beckmann in der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater heute“ zur „Schauspielerin des Jahres 2021“ gewählt worden. Sie wurde jetzt in den Bochumer Kammerspielen vom Kemnader Kreis mit dem Bernhard-Minetti-Preis geehrt, während gleichzeitig Gina Haller in der Kategorie „Arriviert“ und Anne Rietmeijer („Nachwuchs“) vom Freundeskreis des Schauspielhauses mit dem Bochumer Theaterpreis ausgezeichnet wurden.
Das Ende der Welt
Der heute 34-jährige Louis (körperbetontes Spiel gepaart mit Entertainer-Qualitäten: „Schauspieler des Jahres 2021“ Benjamin Lillie) hat einst seine Familie verlassen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Worunter besonders seine damals elfjährige Schwester Suzanne (zu kurz gekommen: „Shorty“ Wiebke Mollenhauer) gelitten hat, weil sie mit dem großen Bruder ihr Vorbild verlor. Aber auch für seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Antoine (Nils Kahnwald), der stets darunter litt, dass der Erstgeborene Mutter Martines (manipulative Egoistin, die ihre Unsicherheit mit exaltiertem Verhalten übertüncht: Ulrike Krumbiegel) Liebling gewesen ist, war Louis‘ plötzlicher Weggang keine Befreiung. Fühlt er sich doch seither für die Familie verantwortlich und, samt Gattin Catherine (um Harmonie bemüht: Maja Beckmann) und zwei Kindern, an Mutters Wohnort Ort gefesselt.

Plötzliche Rückkehr
Nach zwölf Jahren ist Louis so plötzlich und ohne Vorankündigung zurückgekehrt, was die Familie in große Aufregung – und nicht geringere Ratlosigkeit versetzt. Nicht zuletzt seine Schwester Suzanne, die ihn dafür verantwortlich macht, dass sie noch im Alter von 23 Jahren zu Hause lebt, vom Gefühl geplagt, ihr Leben zu verpassen. Auch wenn Catherine, der Louis überhaupt zum ersten Mal begegnet, immer wieder Versuche unternimmt, die Wogen zu glätten, herrschen doch wechselseitige Vorwürfe, Kränkungen und aufgestaute Aggressionen fort. Sodass, zumindest in der französischen Originalfassung, der egomanische, in seiner Verzweiflung gar gehässige Louis gar nicht dazu kommt, seine Angehörigen mit dem Grund seiner Rückkehr zu konfrontieren: Er ist homosexuell, an Aids erkrankt und wird sterben.
Teilweise autobiographisch
Jean-Luc Lagarce hat sein teilweise autobiographisches Stück „Juste la fin du monde“ Anfang der 1990er Jahre während eines Arbeitsaufenthaltes in Berlin verfasst und, nachdem es in Frankreich auf großes Unverständnis stieß, 1995 in den dritten Teil seines letzten Textes, „Le pays lointain“ („Das ferne Land“) integriert. Zwei Wochen nach dessen Fertigstellung ist Jean-Luc Lagarce im Alter von 38 Jahren an Aids gestorben. Erst im Oktober 1999 fand die Uraufführung am Théâtre National de la Colline in Paris statt.
Inszenierung des Jahres
Die Geschichte um einen Sohn, der nach zwölf Jahren zu seiner entfremdeten Familie zurückkehrt, war zum 58. Berliner Theatertreffen eingeladen und 2021 in besagter Journalistenumfrage „Inszenierung des Jahres“ gewählt worden. Es folgte wenig später der österreichische Theater-Oscar „Nestroy“ für die „Beste Aufführung im deutschsprachigen Raum“.
Maja Mitglied der Compagnie
Regisseur Christopher Rüping und seine „Compagnie“ um Maja Beckmann, Nils Kahnwald, dem jetzt in Bochum mit stehenden Ovationen gefeierten Benjamin Lillie und Wiebke Mollenhauer haben für den ersten Teil einer geplanten Familien-Trilogie eine eigene Fassung erarbeitet: namenlosen Figuren stehen für die Allgemeingültigkeit einer Handlung, die Lagarces Themen wie den Klassenunterschied zwischen dem Handwerker und dem Erfolgsschriftsteller, das Gefälle zwischen Provinz und Metropole, schließlich die Homosexualität des Erstgeborenen zunächst nur als leise Hintergrundmelodie mitschwingen lassen. In Rüpings zweieinhalbstündiger „Einrichtung“ gibt es keine Schwarz-Weiß-Malerei, keine Zuordnung von Gut und Böse, dafür bis zum hier tatsächlich überraschenden Finale geradezu herzzerreißende Offenbarungen – und eine fulminante Tanzszene zu Gigi D’Agostinos „I’ll Fly With You“ von Benjamin Lillie und dem Musiker Matze Pröllochs.
Imagination des Alltags
Ursprünglich hatte Bühnenbildner Jonathan Mertz drei verschiedene Innenräume vorgesehen, die coronabedingt zugunsten einer weitgehend leeren, die notwendigen Abstände ermöglichenden Bühne wieder verworfen wurden. Imagination eines Alltags zwölf Jahre zuvor: Beim Bochumer Gastspiel bilden die Räumlichkeiten der elterlichen Wohnung – in Louis‘ Imagination detailversessen verstärkt durch den Einsatz einer Videokamera, deren Bilder live auf eine große Leinwand projiziert werden – den sehr anschaulichen Einstieg in die eigentliche, nach der frühen (Umbau-) Pause einsetzenden Geschichte. Die sich vor den aufgereihten Kulissen-Rückwänden in einem weitgehend kahlen Bühnenraum abspielt.