
Spektakulärer Start der Ruhrfestspiele
Das Heerlager der Heiligen
Poesie und Politik hat der neue Ruhrfestspiel-Intendant Olaf Kröck dem Revierpublikum versprochen – und bereits zum Auftakt Wort gehalten. Für die Poesie wurden Lina Beckmann und Charly Hübner am Sonntag (5.5.2019) im ausverkauften Festspielhaus minutenlang mit stehenden Ovationen gefeiert nach ihrer beinahe schon szenischen Lesung des zu Herzen gehenden Liebesromans „Einst in Europa“ des vor zwei Jahren in Paris gestorbenen britischen Schriftstellers und Malers John Berger. Für die Politik waren Kröck und sein Chefdramaturg Jan Hein ins Risiko gegangen: In einer Koproduktion mit dem Schauspiel Frankfurt haben der Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer und die Dramaturgin Marion Tiedtke den Roman „Le Camp des Saints“ des heute 93-jährigen französischen Monarchisten Jean Raspail für die Bühne bearbeitet. Sinnvollerweise nicht als Nacherzählung des auch auf Deutsch im Verlag des Neu-Rechten Götz Kubitschek erschienenen Machwerks, das Michel Houellbecq angeblich zu seiner Unterwerfung angeregt haben soll.
Die Adaption solle vielmehr ein Abend über den Roman werden in Anlehnung an die zweibändige Untersuchung Männerphantasien des Freiburger Kulturtheoretikers Klaus Theweleit, kündigte Schmidt-Rahmer im Gespräch mit Sascha Westphal im Magazin „Kultur West“ an. „Das Heerlager der Heiligen“, am 4. Mai 2019 im Kleinen Haus auf Recklinghausens Grünem Hügel uraufgeführt, folgt der bereits 1973 in Paris erschienenen Dystopie denn auch nur sehr eingeschränkt: Raspail beschreibt auf mehr als 400 Seiten in einer hier nicht wiedergebbaren Gossensprache den Aufbruch von mehreren Hunderttausend Indern der unteren Kasten in einer Armada von gekaperten Schiffen, nachdem der belgische Botschafter das Ende eines europäischen Adoptionsprogramms verkündet hat. Weil Australien, Ägypten und Südafrika eine Aufnahme der Flüchtlinge auch mit Waffengewalt verweigern, steuert die Flotte auf das Mittelmeer zu, um in Südfrankreich zu landen. Was eine Massenflucht der Franzosen in den Norden des Landes auslöst. Nur eine kleine, elitäre, den eigenen Untergang wie den des Abendlandes voraussehende Gesellschaft kampfbereiter Männer stellt sich in den Bergen oberhalb von Nizza der Invasion der „Schwarzen“ entgegen. Diese haben alle Hilfsangebote, auch die des Papstes, der bereit ist, die Vatikan-Schätze zu verkaufen, abgelehnt. Weil sie sich, so der anonyme Erzähler der Vorlage, als die Vorhut einer anderen Welt, die an die Tore des Wohlstands pocht, versteht.
Thilo Reuthers Bühne scheint Hermann Görings Carinhall in der Schorfheide nördlich der Reichshauptstadt nachempfunden: rustikale Eichentür, Naturstein-Kamin, Bibliothek, vorn auf dem Fernsehschrank eine militärische Schirmmütze. Die an das letzte Abendmahl erinnernde sechsköpfige dekadente Tafelrunde schwärmt von vergangenen Zeiten und lästert über das feige Schweinesystem, das sich in den Norden des Landes abgesetzt hat. Das Broiler mampfende Zombie-Quartett Daniel Christensen, Stefan Graf, Michael Schütz und Andreas Vögler wird verstärkt um Katharina Bach und Xenia Snagowski. Die beiden Amazonen zeigen den sich auch noch selbst einkotenden männlichen Schlappschwänzen, was die Stunde geschlagen hat. „Der Wolf will nicht mehr Wolf sein“, also greifen sie selbst zu den Waffen...
„Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich leben kann in meiner Scheiße“: Hermann Schmidt-Rahmers rund einhundertminütige Inszenierung befeuert das Publikum mit einem Heiner-Müller-Zitat („Hamletmaschine“) in Endlosschleife, mit französischen Chansons von Serge Lamas Je suis malade bis Edith Piafs Non, je ne regrette rien, mit dem ikonischen Foto eines vermutlich dreijährigen toten Jungen mit dem Gesicht nach unten am Strand des türkischen Badeortes Bodrum, mit Altkanzler Helmut Schmidt, der die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt problematisiert, und mit der brennenden Pariser Kathedrale Notre Dame. Eine beliebig wirkende wilde Mischung also, im Westen nichts Neues vom zweimaligen NRW-Theatertreffen-Preisträger. Die ganz aktuelle Grundaussage des Stücks, das damit die Romanvorlage konterkariert, wird dadurch glücklichweise nicht überdeckt: die Festung Europa hält trotz anderslautender Behauptungen und stilisierter Untergangsszenarien der Neuen Rechten allem Ansturm stand. Weil sich die Europäer in einem einig sind: Caritas ja, verbunden mit schulterklopfenden Mitleidsbekundungen, solidarische Teilung des eigenen Reichtums nein.
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- Montag, 6. Mai 2019, um 19:15 Uhr