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Der Kölner Folkwang-Absolvent Linus Scherz, demnächst im WDR-„Tatort“ zu sehen, überragt als Conférencier im Bochumer Rottstr5-Theater.

Repertoire-Dauerbrenner am R5-Theater Bochum

Christopher Isherwoods „Cabaret“

Den Gassenhauer „Es gibt nur ein Berlin“ hat Walter Kollo in den 1920er Jahren für „die“ Berliner Volkssängerin Claire Waldoff, übrigens als Bergmannstochter in Gelsenkirchen zur Welt gekommen, geschrieben. Er führt das Publikum unter den Westfalenbahn-Bögen am Rande des Bochumer Bermuda-Dreiecks ein in die Atmosphäre einer Zeit, die den britisch-amerikanischen Autor Christopher Isherwood (1904 – 1986) elektrisiert hat. 1929 zusammen mit seinem Freund, dem Schriftsteller W. H. Auden, nach Berlin gekommen, genoss er den heißen Tanz auf dem Vulkan in den Schwulenkneipen und Revuepalästen. Im Gegensatz zum puritanischen London konnte er hier seine Sexualität offen ausleben. Freilich nur bis zum Mai 1933, als ein gewisser Adolf Hitler, Österreicher aus Braunau am Inn, die Mehrheit im Reichstag hinter sich bringen konnte und das „Tausendjährige Reich“ ausrief.

Odyssee durch halb Europa

Nach einer Odyssee durch halb Europa landete Isherwood 1939 in den USA. Noch im gleichen Jahr erschien bei Hogarth in Großbritannien ein halbes Dutzend kurzer Erzählungen unter dem Titel „Goodbye to Berlin“: Der Ich-Erzähler bezieht ein billiges Quartier bei Fräulein Schröder, die schon ‘mal bessere Zeiten gesehen hat. Er freundet sich mit der jüdischen Familie Landauer an, in deren Adern vor allem preußisches Blut fließt, mit dem homosexuellen Paar Peter und Otto sowie der jungen Engländerin Sally Bowles, die unbedingt zum Film will.

„Ich bin eine Kamera mit weit geöffneter Blende, passiv aufzeichnend, nicht denkend“ beschreibt Isherwood seinen Beobachter-Status. John van Drutens Theaterstück, das 1951 mit wenig Erfolg am Broadway herauskam, trägt daher den Titel „I am a camera“. Es bildete aber neben den Texten Isherwoods die Grundlage für den Welterfolg des Musicals „Cabaret“ von Joe Masteroff (Buch), Fred Ebb (Gesangstexte) und John Kander (Musik), das 1966 in New York herauskam und 1972 von Bob Fosse mit Liza Minelli, Joel Grey, Michael York und Fritz Wepper verfilmt wurde.

Im schummrigen Kit-Kat-Club in der Amüsiermeile zwischen Alexanderplatz und Potsdamer Platz geht allabendlich die Post ab – mit Lea Kallmeier, Linus Scherz und Benedict ter Braak.

Maria Trautmanns kongeniale Précis-Fassung für ihre knapp einstündige Inszenierung, die inzwischen zum Repertoire-Dauerbrenner avanciert ist, verbindet die Isherwood-Vorlage mit einer Handvoll Songs aus dem Musical und der dadaistischen Sonate in Urlauten von Kurt Schwitters: „Fümms bö wö…“

Den Alltag vergessen

„Willkommen, Bienvenue, Welcome“: Im schummrigen Licht des Kit-Kat-Clubs lädt der überragende Linus Scherz als Conférencier das Publikum ein, den Alltag zu vergessen. Das Leben ist eine Enttäuschung? „Macht euch nix draus!“. Lea Kallmeier, hier als Sally Bowles, später in zahlreichen weiteren Rollen, lässt den Sektkorken knallen. In Maika Küsters raffiniert geschnittenen Kostümen wird das Schauspieler-Duo bisweilen auch szenisch unterstützt vom Musiker Benedikt ter Braak, der die teilweise extra für die Verfilmung komponierten Songs bearbeitet hat. So gibt’s etwa „Money, Money“ a-cappella als dreistimmigen Sprechgesang.

Immer wieder dringen die politischen Ereignisse der Außenwelt akustisch in diesen scheinbar geschützten Ort ein, in dem die Devise lautet: „Augen zu und durch“. Wer weiß, was der nächste Morgen bringt. Da lässt sich lieber vom wunderschönen Sonnenuntergang träumen. Plötzlich ist die überspannt-dekadente, morbid-verrückte Stimmung passé: der Conférencier entledigt sich seiner roten Jacke und stimmt, dabei sich sichtlich unwohl fühlend, das so romantisch daherkommende Lied „Der morgige Tag ist mein“ an: Götterdämmerung. „Hitler regiert Berlin“, doch: „Life is an Cabaret, old chum.“ Mit einem Schrei der Verzweiflung verlässt ein sich nach Zärtlichkeit sehnender Entertainer die Bühne…

Nur knapp eine Stunde dauert dieser in der intimen Rottstraßen-Atmosphäre unter die Haut gehende Abend mit Linus Scherz, Lea Kallmeier und Benedikt ter Braak. Letzterer sorgt mit seiner Schwitters-Rezitation und kurzen musikalischen Ausrufezeichen für Störgeräusche parallel zu den Ereignissen der realen Welt außerhalb des Clubs – von den Weimarer Notverordnungen über die Weltwirtschaftskrise bis hin zum Zusammenbruch der Republik. Maria Trautmanns Inszenierung kommt mit wenigen, scheinbar ganz einfachen Mitteln auf den Punkt: Der Musiker pfeift leise die Melodie „Tomorrow Belongs To Me“, als Lea Kallmeiers preußischer Jude Landauer die Zeichen der Zeit negiert.

Die nächste Vorstellung: Am Freitag, 27. Oktober 2023, um 19:30 Uhr. Im Eintrittspreis von 14 Euro (ermäßigt 7 Euro) ist wie gewohnt ein Getränk enthalten. Tickets unter Tel 0163 – 761 50 71.

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  • Freitag, 27. Oktober 2023, um 19:30 Uhr
Donnerstag, 12. Oktober 2023 | Autor: Pitt Herrmann