
'Der Vorleser' kommt auch nach Herne
Bernhard Schlinks Bestseller auf der Bühne
Bernhard Schlink, von 1988 bis 2006 Richter am Verfassungsgerichtshof NRW in Münster, ist 1995 mit seinem semiautobiographischen 200-Seiten-Roman „Der Vorleser“ ein Weltbestseller gelungen. Darin muss sich der an Gelbsucht erkrankte Ich-Erzähler Michael Berg auf dem Nachhauseweg von der Schule übergeben und wird von der Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz versorgt. Zwischen dem 15-Jährigen und der zunächst so spröden, geradezu abweisenden 36-Jährigen entwickelt sich eine Amour fou, die sein ganzes weiteres Leben beeinflussen sollte.
Hanna war mit 17 aus Siebenbürgen nach Berlin gekommen und hatte bei Siemens gearbeitet, als sie sich kurz vor ihrer Beförderung zur Vorarbeiterin von der SS für den Wachdienst in gerade entstehenden Konzentrationslagern anwerben ließ. Das erfährt Michael aber erst, als er, inzwischen Jura-Student, für sein Seminar einen spektakulären Auschwitz-Prozess protokolliert und seine einstige Geliebte als Hauptangeklagte erkennt. Ihr hatte er damals stundenlang vorgelesen, Schullektüre wie „Emilia Galotti“ und andere Klassiker, bevor Hanna plötzlich nach einer verschämten Begegnung am Badesee nach Hamburg abreiste.
Hanna nimmt die Schuld auf sich
In der wochenlangen Gerichtsverhandlung kommt heraus, dass sich Hanna auch in Auschwitz und später in einem Außenlager bei Krakau vornehmlich von ganz jungen Insassinnen vorlesen ließ. Sie tritt allen Anschuldigungen mit Unverständnis entgegen, selbst dem Vorwurf, den Verbrennungstod mehrerer hundert Gefangener auf einem Todesmarsch nicht verhindert zu haben. Als der Vorsitzende Richter jedoch von Hanna eine Schriftprobe verlangt, nimmt diese plötzlich alle Schuld auf sich – und wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Michael hätte sie entlasten können mit der Mitteilung ans Gericht, dass dieses falsche Schuldeingeständnis allein daraus resultiert, dass Hanna Analphabetin ist und sich stets dafür geschämt hat. Nun schämt Michael sich, es nicht getan zu haben – und bespricht Audiokassetten u.a. mit Homers „Odyssee“, die er Hanna ins Gefängnis schickt. Als sie nach 18 Jahren Gefängnis ihre Strafe verbüßt hat, besorgt Michael, inzwischen Rechtswissenschaftler an der Universität mit Schwerpunkt Drittes Reich, ihr eine Wohnung und Arbeit. Doch Hanna hat sich am Morgen ihrer Entlassung in der Zelle erhängt…
Oscar für Kate Winslet
In „Der Vorleser“ geht es in drei Teilen und 46 Kapiteln um die komplexen Fragen von Schuld und Verantwortung in der Folge des Holocausts. Das Schlüsselwerk zu den ganze Generationen prägenden Folgen der Naziherrschaft ist 2008 von David Hare adaptiert und von Stephen Daldry verfilmt worden mit David Kross und Ralph Fiennes als Michael und einer zu Recht mit Golden Globe und Oscar ausgezeichneten Kate Winslet als Hanna.
2020 wurde am Württembergischen Landestheater Esslingen die Bühnenadaption der Regisseurin Mirjam Neidhart uraufgeführt, welche sowohl Michaels Reise ins Elsass, um sich mit Struthof-Natzweiler erstmals ein KZ anzusehen und Hannas Verhalten besser einordnen zu können, unterschlägt als auch seine auf fatale Weise unmittelbar mit Hanna verbundene eigene Familiengeschichte als geschiedener Vater einer Tochter.
Erste große Abendproduktion
Pia Böhmes Inszenierung am Westfälischen Landestheater ist ein großer Erfolg für die erst 28-Jährige, die nach ihrem Master-Abschluss an der Bochumer Ruhr-Universität als Regieassistentin nach Castrop-Rauxel ging und nun, nach dem Jugendstück „Steht auf, wenn ihr Schalker seid“, ihre erste große Abendproduktion verantwortet hat.
In der zweigeteilten Bühne der Ausstatterin Rabea Stadthaus steht auf der linken Seite der Schreibtisch des hier „Vorleser“ genannten Autors und (Ich-) Erzählers: Guido Thurk wird im zweiten Teil nach der Pause des rund zweistündigen, nachhaltig beeindruckenden Abends an der Seite Tobias Schwiegers den erwachsenen Michael Berg verkörpern. Wenn sich im labyrinthisch verschachtelten Gerichtssaal rechterhand Hanna Schmitz den Fragen des Richters (Mike Kühne) und den Falschaussagen der Zeugin (Simone Schuster) nicht zu erwehren weiß, ohne ihr Geheimnis zu offenbaren: Thyra Uhde bewältigt die von Kate Winslet spektakulär verkörperte Rolle mit einer geradezu stoischen Ruhe. Nur in ihren Augen flackert immer wieder ihre Unsicherheit auf.
Perspektive der Täter und Nachfahren
Pia Böhme zur Toncollage aus dem Off: „Die 'Geschichte des ‚Vorleser' wird komplett aus der Sicht von Michael Berg erzählt, daher setzt sie sich grundsätzlich mit der Perspektive der Täter und deren Nachfahren auseinander. Es war mir wichtig, in der Inszenierung einen kurzen Moment zu schaffen, in dem wir die Stimmen der Opfer hören, die in der Kirche oder in Auschwitz ums Leben gekommen sind. Sie lesen Texte, um den Fokus auf Hannas Teil der Schuld zu ziehen.“
Weiter führt sie aus: „In manchen Interpretationen des Textes wird ihr Analphabetismus als eine Entschuldigung ihrer Taten gewertet. Davon soll sich der Einspieler distanzieren. Sie war ebenso schuldig wie die anderen Aufseherinnen und hat die Häftlinge für ihr eigenes Vergnügen genutzt. Inhaltlich setzen sich die Textfragmente mit verschiedenen Darstellungen von Feuer, dem Zeitgeist, Vergnügen und Brutalität gegenüber Wehrlosen auseinander. Im Hintergrund hören wir das Feuer, das die Stimmen der Häftlinge in dieser Nacht für immer zum Verstummen gebracht hat.“
Die nächsten Vorstellungen sind erst nach der Sommerpause, darunter am Samstag, 9. September 2023, um 20 Uhr in der Stadthalle Castrop-Rauxel und am Dienstag, 19. Dezember 2023 um 19:30 Uhr im Herner Kulturzentrum.
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- Dienstag, 19. Dezember 2023, um 19:30 Uhr
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- Samstag, 9. September 2023, um 20 Uhr