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Im Mittelpunkt: der überragende Tenor Martin Homrich.

Politisch statt kulinarisch am Musiktheater im Revier

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

„Reicher Mann und armer Mann / Standen da und sahn sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“ Der siebzehnte Vierzeiler des 1934 für seinen Sohn Stefan in Svendborg geschriebenen Scherzgedichtes Alfabet von Bertolt Brecht sorgt noch einmal für zustimmenden Applaus beim Premierenpublikum im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier. Er ziert den Vorhang am Ende der gut zweieinhalbstündigen Neuinszenierung von Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny durch den Filmemacher Jan Peter, der sich mit dem Videodesign des Schalke-Oratoriums Kennst du den Mythos? von Heribert Feckler und Dieter Falk im September 2015 am Kennedyplatz wie in der Veltins-Arena einen Namen gemacht hatte.

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„Denn wenn einer tritt, dann bin ich es / Und wird einer getreten, dann bist's du“: Beinahe 90 Jahre nach seiner skandalumwitterten Uraufführung am 9. März 1930 im Neuen Theater Leipzig und exakt 25 Jahre nach der bei Publikum und Kritik heftig umstrittenen über dreistündigen Multimedia-Inszenierung Uwe Eric Laufenbergs, der die Netzestadt in Werner Ruhnaus Glaspalast verlegte und mit einem videounterstützten Tutti-Frutti-Remake gegen die kommerzielle Trivialkultur wetterte, ist es mit der opulenten Kulinarik vorbei. Für die Ende März 1994 ein tolles Solistenensemble um Tom Erik Lie und vor allem Koen Schoots am diesmal auf den Brettern stehenden Pult gesorgt hatten.

Brecht und Weill, die drei Jahre am Mahagonny-Sujet, entstanden aus dem Songspiel und den Mahagonny-Gesängen der Hauspostille, gearbeitet haben, legten ihre epische Oper bewusst als gleichberechtigte Synthese aus Text und Musik an, wobei, quasi als Abfallprodukt zwischendurch und innerhalb von nur wenigen Wochen, die Dreigroschenoper entstand. Bei Thomas Rimes ist die Neue Philharmonie Westfalen dagegen wieder in den Graben abgetaucht Zwei Männer und eine Frau werden wegen Kuppelei und betrügerischem Bankrott gesucht: Dreieinigkeitsmoses (Urban Malmberg), Fatty, der Prokurist (Hosenpartie für Petra Schmidt), und die Witwe Leokadja Begbick (Almuth Herbst, der Anna Maria Münzner warum auch immer das Outfit einer peitschenschwingenden Westernlady verpasst hat). Sie bleiben auf der Flucht vor der Polizei in einer öden Gegend stecken und beschließen, eine Stadt zu gründen. Hier sollen die zahlungskräftigen Männer von der Goldküste ihren Spaß haben.

Anke Sieloff überzeugt als Jenny.

Zu denen nicht nur Revier-Kumpel gehören (der Herrenchor), die mit Helmleuchten aus dem Bühnen-Orkus hochfahren, sondern auch Paul Ackermann alias Jimmy Mahoney (überragender Tenor: der Kurt Moll-Schüler Martin Homrich), der bald eine Liebesaffäre mit der Prostituierten Jenny Hill (holt nach eher schwächerem Beginn stark auf: Anke Sieloff begeistert dann musikalisch wie darstellerisch) beginnt, samt seiner Holzfäller-Kumpel Jakob Schmidt (Tobias Glagau), Sparbüchsenheinrich alias Heinrich Merg (Petro Ostapenko) und Alaskawolfjoe alias Joseph Lettner (Joachim G. Maaß). Angesichts eines bedrohlich auf Mahagonny zusteuernden Hurrikans „fand ein einfacher Holzfäller namens Paul Ackermann die Gesetze der menschlichen Glückseligkeit“: Fressen, saufen, huren – alles erlaubt. Nur eines nicht: Zechprellerei. Die wird mit dem Tode bestraft. „Wir brauchen keinen Hurrikan“, weiß Paul Schmidt, „Wir brauchen keinen Taifun / Denn was er an Schrecken tun kann / Das können wir selber tun.“

Auf der zweigeteilten Drehbühne Kathrin-Susann Brose, hier der Hotel zum reichen Mann genannte Saloon der Netzestadt, wo gegen Geld kein Wunsch unerfüllt bleibt, dort eine Industriekulisse wie im prosperierenden Ruhrgebiet der Nachkriegszeit unter amerikanischer Besatzung, werden Begbick & Co als Kriegsverbrecher gesucht. „Unsere weiße Weste verdanken wir Persil“: dem laschen Entnazifizierungsprogramm der Amis, die man im Video durchs weitgehend ausgebombte Gelsenkirchen fahren sieht, entspricht das ungesühnte Tragen von SS-Uniformteilen mit Totenkopfsymbol (Urban Malmberg muss den unverbesserlichen Nazi als einäugigen Schlächter geben).

Bewältigt wird hier nur die Gegenwart – mit dem totalen Aufschwung des Wirtschaftswunder-Kapitalismus. Wir sind wieder wer – die Bierkrüge haben Münchner Oktoberfestmaß-Größe. Anke Sieloffs hochgeschlitzter Rock erinnert freilich eher an Marilyn Monroe als an ein Freudenmädchen der 1950er Jahre. „Denn wie man sich bettet, so liegt man…“: Zum Finale des 1. Aktes mutiert die Rampe zur Chorus-Line. Der „Sturm“ über Mahagonny wird wie vor einem Vierteljahrhundert am gleichen Ort als Krieg interpretiert und von entsprechenden Projektionen, hier Bomberstaffeln des 2. Weltkriegs samt finalem Atompilz, begleitet. Die Netzestadt ist wie durch ein Wunder verschont geblieben – wie weite Teile Hernes und Wanne-Eickels, weshalb das halbe Ruhrgebiet in den Fünfzigern zu Live-Auftritten Kurt Edelhagens und anderer Orchester in die intakten Gesellschaftssäle des nördlichen Reviers pilgerten.

„Jetzt hab ich gegessen zwei Kälber…“: Im ungleich lebendigeren zweiten Akt sitzt Tobias Glagau auf dem Klo und frisst sich an vom Bühnenhimmel herunterfallenden Würstchen zu Tode. Und Puffmutter Almuth Herbst gibt den notgeilen Kerlen Verhaltensregeln mit auf den Weg hinter den Vorhang, den sich Pedro Ostapenko bis zur totalen Erschöpfung in immer neuen Verkleidungen erschleicht – bei weitem die witzigste Szene eines ansonsten todlangweiligen, weil mit allzu Bekanntem völlig überfrachteten Regietheater-Abend. Wozu auch die Anspielungen an Splatterfilm-Horror wie Christoph Schlingensiefs satirisches „Kettensägen-Massaker“ von 1990 gehören. Im dritten Akt, wo der auf einer vom Schnürboden herunterhängenden Schaukel in wagemutiger Höhe sitzende Paul Ackermann wegen des für seinen Freund Fatty tödlich ausgegangenen Preisboxkampfes freigesprochen, wegen Zechprellerei aber zum Tode verurteilt wird, hält das demonstrierende Volk aus egoistischen Individualisten „Ich!“-Plakate in die Höhe, bevor es mit MG-Garben niedergemäht wird…

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„Die Musik“, so Kurt Weill im Januar 1930, „ist in keinem Moment illustrativ. Sie versucht, die Haltung des Menschen in den verschiedenen Situationen, die der Aufstieg und Fall der Stadt herbeiführt, zu realisieren.“ Kurt Weills und Bertolt Brechts epische Oper war und ist nach wie vor als Gegenentwurf für die Erneuerung der Gattung interessant, deren durchkomponierte Form hier aufgegeben ist zugunsten selbständiger musikalischer Szenen. Nach hemmungsloser Ausbeutung eigener (Happy End, Hauspostille, Joe Fleischhacker) und Werke der Musikgeschichte von der Barockoper über den Belcanto-Gesang bis hin zur modernen Trivialmusik verfügt Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny über ein gehöriges Ohrwurm-Potential (Oh, moon of Alabama, Denn wie man sich bettet…, Meine Herren…), das Thomas Rimes besonders im ersten Akt mit einem Grauschleier überdeckt. Was angesichts der plakativen Zettelkasten-Inszenierung Jan Peters nach der Pause nur sehr schwer aufgeholt werden kann.

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  • Samstag, 2. Februar 2019, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann
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