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Schrecklich amüsante Showtime auf dem Ozeanriesen: Stefan Hunstein als Hypnotiseur.

Brillantes Hunstein-Solo in Bochum

Schrecklich amüsant

Verkaufsfördernde Kaufhaus-Musikberieselung in Endlosschleife. Die Bühne auf den ersten Blick: Triste Wartesaal-Atmosphäre. Eine Bank, rechts ein Süßwaren-Automat wie auf jedem Bahnsteig, vorn fünf Lampen, auf deren großformatige Kugeln später Videos projiziert werden. Nicht gerade die Traumschiff-Kulisse, die wir vom Bildschirm her kennen oder von Cole Porters Musical „Anything Goes“. Was nicht der einzige V-Effekt dieses grandiosen hundertminütigen Solo-Abends am Schauspielhaus Bochum mit dem Protagonisten Stefan Hunstein und normalerweise unsichtbar bleibenden Besatzungs-Mitgliedern in und hinter den Kulissen bleiben sollte.

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Immer wieder lässt sich die Inspizientin Christina Baston über die Lautsprecher vernehmen und die mehrfach im Hintergrund wahrnehmbare Geräuschkulisse fahrender Züge wurde zweifellos in der Berliner U-Bahn aufgenommen. Dabei steht, passend zur nach Corona-Lockdown gerade wieder einsetzenden und sicherlich bald boomenden Kreuzfahrtschifffahrt unserer Tage, der Ich-Erzähler in Hawaii-Hemd und Shorts mit Cocktailglas an der Reeling der „Zenith“, um Mitte der 1990er Jahre im Auftrag von Harper’s Magazine von Key West aus zur siebentägigen Karibik-Kreuzfahrt in See zu stechen. Nun mit einigen typischen Requisiten wie Liegestühlen samt adrett gefalteten Badetüchern, Schachbrett und Tischtennis-Platte bis hin zum Mini-Green unterm Golfbag (Bühne: Anna Wörl, Kostüme: Sofia Dorazio Brockhausen).

Kreuzfahrten in Zukunft ohne ihn: Stefan Hunstein als David Foster Wallace.

Aus dem Versprechen der Crew, „Your Pleasure is our Business“ („Ihr Vergnügen ist unser Geschäft“), wird bald ein Selbsterfahrungsturn besonderer Güte, den der „Reporter“ David Foster Wallace schlicht als Höllen-Trip bezeichnet. Wobei es nicht nur um die horriblen Geräusche der ungemein effizienten Unterdruck-Toilette in seiner Kabine geht, die ihm nachts Alpträume vom eigenen Verschwinden verschaffen. Oder um Hunderte von sich im realen Leben als Individualisten verstehende gutverdienende Leistungsträger, die sich beim Animier-Verwöhnprogramm freudig zur skurrilen Ententanz-Masse formen lassen. Sondern auch um generelle Fragen wie den Luxus-Tourismus in den ärmsten Regionen der Welt, wo sich Ureinwohner wie Affen im Zoo bestaunen lassen müssen.

Angesichts des Rund-um-die-Uhr-Amüsierzwangs igelt er sich zunehmend in seiner Kabine ein, wird auf sich selbst zurückgeworfen. Kein Wunder, dass sein Fazit lautet: „Ich fühle mich kein bisschen erholt“. Was allerdings auch daran liegt, dass er mit seiner der englischen Sprache nicht mächtigen Kabinenstewardess nicht wirklich ins Gespräch kommt noch gar die anderen, unsichtbaren und naturgemäß nicht-weißen „Heinzelmännchen“, die im Verborgenen „klar Schiff“ machen, zu Gesicht bekommt. Was ihm einerseits unheimlich ist, ihn andererseits zum Erbsenzähler werden lässt – nicht nur bezüglich der Trinkgelder…

Der amerikanische Schriftsteller und Hochschullehrer David Foster Wallace (1962 – 2008), hierzulande vor allem durch seinen Roman „Infinite Jest“ („Unendlicher Spaß“) von 1996 bekannt, hat Reportagen für das renommierte „Harper's Magazine“ geschrieben, so auch „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ aus dem gleichen Jahr. Sein Leben war von schweren, mit Alkoholexzessen verbundenen Depressionen geprägt, die den begnadeten Short-Story-Autor und Essayisten im Alter von nur 46 Jahren in den Selbstmord trieben. Nach seiner Kurzgeschichten-Sammlung „Kurze Interviews mit fiesen Männern“, im Mai 2013 im Theater Unten von Monika Gies u.a. mit Therese Dörr und Dimitrij Schaad herausgebracht, hat es nun auch die Titelgeschichte der Essay-Sammlung „A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again“ auf die Bochumer Bretter gebracht, nach der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay durch den Chefdramaturgen Vasco Boenisch.

Stefan Hunstein, gebürtiger Kasselaner des Jahrgangs 1957, gehörte nach seinem Schauspiel-Studium in Stuttgart schon einmal von 1986 bis 1990 zum seinesgleichen suchenden Ensemble des Schauspielhauses Bochum in der Intendanz Frank-Patrick Steckels. Nach einem Vierteljahrhundert München u.a. in den Kammerspielen unter Johan Simons ist der Kurt-Meisel-Preisträger in der Spielzeit 2018/2019 wieder an die „Kö“ zurückgekehrt und gleich mit dem Bochumer Theaterpreis ausgezeichnet worden. Im Bochumer Regiedebüt der jungen Georgierin Tamo Gvenetadze, die mit 18 Jahren nach Deutschland kam und in München Theaterwissenschaften studierte, schlägt Stefan Hunstein das Publikum in den Kammerspielen mit einem facettenreichen, gefühlt alle mimetischen Ausdrucksmöglichkeiten eines erfahrenen Charakterdarstellers einsetzenden Solo über einhundert Minuten in seinen Bann. Nicht zuletzt, weil er, mehr wird nicht verraten, immer wieder unmittelbar mit dem einmal sogar in Angst versetzten Publikum kommuniziert.

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Die nächsten Aufführungen: Am Dienstag, 22. Juni 2021, um 19:30 Uhr sowie am Sonntag, 27. Juni 2021, um 19 Uhr in den Kammerspielen, Karten über die Homepage des Schauspielhauses Bochum. Es gilt das Hygienekonzept, zurzeit ein 24-Stunden-Corona-Test.

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  • Dienstag, 22. Juni 2021, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 27. Juni 2021, um 19 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann