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Der „gute Bulle“ Tupolski (Anna Drexler) und der „böse Bulle“ Ariel (Romy Vreden) an der Kindergarten-Pinnwand.

„Der Kissenmann“ in Bochum

Rätsel ohne Lösung

„Nichts für schwache Nerven” hatte die österreichische Theaterzeitschrift „Bühne” ihren Vorbericht zur Wiener Premiere des Stücks „Der Kissenmann“ des 1970 als Sohn irischer Eltern in London geborenen Martin McDonagh betitelt. Die krasse, hanebüchen detaillierte Story eines psychisch gestörten Kindermörders, uraufgeführt am 13. November 2003 am National Theatre London, erlebte bereits sieben Tage später ihre Deutschsprachige Erstaufführung parallel im Wiener Akademietheater durch den späteren Bochumer Intendanten Anselm Weber und am Deutschen Theater Berlin durch Tina Lanik.

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Die Warnung vor dem neuen, erstmals nicht auf der grünen Insel, sondern in einem ungenannten totalitären Staat spielenden Bühnenschocker des profilierten britischen Gegenwartsdramatikers („Der Leutnant von Inishmore”) und Drehbuchautors („Brügge sehen… und sterben“, jüngst „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“) galt auch für die Bochumer Erstinszenierung der Anselm-Weber-Schülerin Christina Pfrötschner Ende Januar 2015 am Rottstr5-Theater. Denn auch in „The Pillowman“ bleibt Martin McDonagh seinem Erfolgskonzept treu: „Ich schätze”, wird der Autor im „Burg“-Programmbuch zitiert, „ich bewege mich auf diesem Grat zwischen Komödie und Grausamkeit, weil ich denke, das eine erhellt das andere. Und ja, ich neige dazu, die Dinge so weit zu treiben, wie ich kann, weil ich denke, man kann die Dinge klarer durch Übertreibung als durch die Darstellung von Realität erkennen.”

Der Schriftsteller Katurian (Karin Moog, r.) und sein jüngerer Bruder Michal (Anne Rietmeijer).

Der Schriftsteller Katurian K. Katurian (profilierte Märchenerzählerin: Karin Moog), das „K.“ dürfte für Franz Kafka stehen, sieht sich einer inquisitorischen Verhörsituation ausgesetzt. Er versteht zunächst gar nicht, was die beiden Beamten von ihm wollen. Da ist zum einen Inspektor Tupolski (Anna Drexler als „guter Bulle”), der es auf die anbiedernde Tour versucht. Und zum anderen sein Kollege, Inspektor Ariel (Romy Vreden als „böser Bulle”), der den rasch Beleidigten herauskehrt und mit brutaler Gewalt, ja offener Folter, droht.

Sukzessive kommt heraus, dass sich in jüngster Zeit Verbrechen an Kindern ereignet haben, minutiös ausgeführt nach dem Vorbild einiger, zumeist noch unveröffentlichter Romane Katurians. Für die Beamten liegt der Schluss nahe, dass der Schriftsteller selbst zum Täter geworden ist. Wer sonst sollte Zugang zu seinen Manuskripten haben? Vielleicht Katurians jüngerer, psychisch gestörter Bruder Michal (ganz in ihrem Element: Anne Rietmeijer, von ihr stammen auch die Animationen). Welcher von seinen Eltern bewusst misshandelt wurde im stets verschlossenen Nebenzimmer des Erstgeborenen, um dessen Phantasie anzuregen.

Der gibt im Verlauf weiterer Verhöre zu, seinerzeit seine Eltern ermordet zu haben, um seinen Bruder Michal aus ihren Fängen zu befreien. Eine der Geschichten Katurians, „Der Kissenmann”, könnte Aufschluss über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage geben, wären Fiktion und Realität so einfach zu trennen. Entweder grauenvoller Tod als kleines Kind oder mindestens ebenso grauenhaftes Leben als Erwachsener: Was für eine aberwitzige Alternative!

„Es war einmal...”: Die Geschichte eines gekreuzigten Mädchens könnte die der kleinen (Stief-) Schwester Katurians sein. Oder auch nur ein Fake, dem noch Dolleres folgt: Jetzt outet sich auch Ariel, der selbsternannte Rächer aller Kinderschänder-Opfer, indem er gesteht, seine Eltern auf dem Gewissen zu haben. Da will Gutmensch Tupolski nicht zurückstehen und wartet mit einer eigenen Beichte auf: Einst ertrank sein Sohn aufgrund väterlicher Unachtsamkeit. Geht’s noch? McDonaghs Stück hat bei allen glücklicherweise nur verbal geschilderten Grausamkeiten etwas von einer (vorweihnachtlichen) Märchenstunde für Erwachsene und es ist sicher kein Zufall, dass sowohl seinerzeit das Wiener wie nun auch das Bochumer Programm zur Neuinszenierung Guy Clemens‘ mit „Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben” eines der gruseligsten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm zitiert.

In seinem knapp zweistündigen, höchst nervenschonenden Regiedebüt geht der profilierte niederländische Theater- und Filmschauspieler noch einen Schritt weiter, den er „Störung“ nennt: alle vier männlichen Rollen werden von Schauspielerinnen verkörpert in einem schräg zum Parkett gestellten Guckkasten, den die Ausstatterin Katrin Bombe wie die Spielecke eines Kindergartens gestaltet hat. „Die Besetzung ist eine Falle. Wie das ganze Stück“ bekundet Clemens im Gespräch mit der Dramaturgin Angela Obst, die einmal über Wikipedia hinaus recherchieren sollte, dass drei Brüder Grimm an der Märchensammlung gearbeitet haben.

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Das „Rätsel ohne Lösung“ steht wieder am Dienstag, 2., und Sonntag, 28. November, sowie am Dienstag, 21., und Sonntag, 25. Dezember 2021,auf dem Spielplan der Kammerspiele, Karten unter schauspielhausbochum oder Tel 0234 – 3333 5555.

| Autor: Pitt Herrmann