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Kino-Tipp: Rafi, Miloni und Dadi beim Kennenlernen.

Zart-bittersüße Liebesgeschichte neu im Kino

Photograph – Ein Foto verändert ihr Leben

Rafi (Nawazuddin Siddiqui) ist Straßenfotograf an Mumbais berühmtestem Wahrzeichen, dem Gateway of India. Er ist nach dem Abitur aus einem entfernt liegenden Dorf in die früher zur britischen Kolonialzeit Bombay genannte Wirtschafts- und Finanzmetropole Indiens gekommen, um Geld zu verdienen. Zum einen für seine Großmutter Dadi (Farrukh Jaffar), die ihn nach dem Tod seiner Eltern wie eine Mutter aufgenommen und ihm die Schulausbildung ermöglicht hat. Zum anderen, um die Schulden seines Vaters, eines Apothekers, abzuzahlen und so der Familie das Haus zu erhalten.

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„Sie werden später die Sonne auf ihrem Gesicht spüren“: Zusammen mit seinem Freund Zakir bhai (Sabarsh Kumar Shukla) fotografiert Rafi mit seiner Nikon-Spiegelreflexkamera Touristen, Pärchen und Familien. Denen er mittels einer speziellen Entwicklerbox die Abzüge sofort mitgeben kann – gegen entsprechende Bezahlung. Kein Job, der seiner Ausbildung entspricht, aber einer, mit der der als dunkelhäutiger Moslem in der hinduistisch geprägten Gesellschaft stigmatisierte Außenseiter sein Auskommen hat.

„Den ganzen Tag in einem Foto“: Als die junge, grazile Studentin Miloni (Sanya Malhotra) aus dem überfüllten Fährboot steigt und sich elegant den Weg durch die Massen auf dem Vorplatz der Touristenattraktion bahnt, kann Rafi seinen Blick nicht von ihr wenden und verfolgt sie so hartnäckig, bis die ein Okay flüstert und ihm ein Foto abkauft. Das später in ihrer Klasse, sie bereitet sich auf das zweite Wirtschaftsprüfer-Examen vor, die Runde macht und – offenbar nicht nur aus erzieherischen Gründen – vom Lehrer konfisziert wird, der seine beste Schülerin auch privat in den Blick genommen hat.

Bei den Händlern im Basar und unter den Taxifahrern, die sämtlich aus der muslimisch geprägten Provinz Indiens stammen, wird die Nachricht kolportiert, Rafis Großmutter habe ihre Medikamente abgesetzt, weil ihr Enkel immer noch nicht auf Brautsuche gegangen sei. Um Dadi zu beruhigen, schickt er ihr das Bild der ihm bis dahin namentlich unbekannten Schönen, die er als seine Braut ausgibt. Zakir bhai, der aus dem gleichen Dorf wie Rafi stammt und mit dem er auch seine primitive Matratzenlager-Behausung teilt, rät ihm, eine Familie zu gründen: „Verheiratet hast Du nachts wenigstens einen warmen Körper neben Dir.“

Weil die Schule mit dem Bild ihrer Vorzeigestudentin auf Plakaten wirbt, wartet Rafi vor dem Eingang des Gebäudes auf Miloni: seine Großmutter hat ihren Besuch ankündigt, um die Auserwählte kennenzulernen. Obwohl die hellhäutige, gleichermaßen Hindi und Englisch sprechende junge Hinduistin der aufstrebenden Mittelklasse angehört und ihr Vater bereits Anstalten macht, sie nach dem Vorbild des Sohnes eines befreundeten Geschäftspartners zum Studium in die USA zu schicken, lässt sich Miloni darauf ein, gegenüber Dadi, die eine strapaziöse mehrtägige Bahnreise auf sich genommen hat, die Verlobte ihres Enkels zu spielen. Wofür sie eine neue Identität als muslimische Vollwaise Noorie, die in einer Frauenherberge wohnt, annimmt.

Die was auch die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft betrifft erzkonservative und dennoch selbstbewusste, ja bisweilen auch unerbittliche alte Frau imponiert Miloni, welche nicht nur in einem gutbürgerlichen Teil Mumbais lebt, sondern in einer völlig anderen Welt als Rafi: sie empfindet für den großen Familiensinn, auch den dörflichen, regionalen und religiösen Zusammenhalt einer von der Mehrheitsgesellschaft total ausgegrenzten Unterschicht große Sympathie. Unter Einschluss der eigenen, nachts auf dem Küchenboden schlafenden Hausangestellten Rampyaari (Geetanjali Kulkarni), die zu Milonis Vertrauter wird in einem vergleichsweise kalten, rein erfolgsorientierten Elternhaus.

Miloni bekommt freilich auch mit, dass sich selbst in ihrer Gegenwart die Vorurteile gegen den dunkelhäutigen Paria bestehen bleiben, was sowohl für Taxifahrer gilt, die sich Rafi in Begleitung dieser jungen, attraktiven Frau nur als erfolgreichen Schauspieler vorstellen können, als auch für Milonis Lehrer, der ihn auf offener Straße beleidigt. Rafi nimmt alles mit äußerlicher Ruhe hin, denn: „Ihr Lächeln lässt alle Sorgen vergessen“. Er hat, wie seine Oma, die ganz selbstverständlich mitten unter den jungen Männern in der Gemeinschaftsunterkunft nächtigt, stolz bekundet, seinen beiden älteren Schwestern opulente Hochzeiten ausgerichtet – an Stelle des verstorbenen Vaters. „Wie eine Märchenprinzessin“ sei Miloni, schwärmt Dadi, und überreicht ihr den alten, wertvollen Familienschmuck: Fußkettchen, wie sie auch Rampyaari trägt.

Die sich allmählich entwickelnde Liebesgeschichte, in der es kaum einmal zu einer zarten Berührung der Hände kommt, kann die enormen Gegensätze der indischen Kasten- und Klassengesellschaft weder negieren noch gar überwinden. Weshalb Miloni alles dafür tut, Rafi vor ihrer Familie zu verheimlichen. Weshalb keine Rede davon sein kann, dass beide „eine neue Sicht sowohl auf das eigene als auch auf das Leben des Anderen“ bekommen, wie es der NFP-Pressetext behauptet: dieses Kennenlernen ist höchst einseitig auf Miloni bezogen.

Am Ende verlässt sie als Erste eine Filmvorstellung, in der es um eine ausweglose Liebe zwischen einem armen Kraftfahrzeugschlosser und einer höheren Tochter geht, vorzeitig: Sie kann das eigene, auf der Leinwand gespiegelte Elend nicht ertragen. Beide verlassen das Kino stumm, aber händchenhaltend.

Photograph heißt der neue Film von Autor und Regisseur Ritesh Batra, der 2013 mit Lunchbox zunächst in Cannes und danach weltweit die Herzen des Kino-Publikums eroberte. Mit-Autorin ist die Lunchbox-Hauptdarstellerin Nimrat Kaur, zuständig vor allem für die Übertragung des auf Englisch verfassten Drehbuchs in die indischen Lokalsprachen Hindi und Gujarati. Nach der Julian-Barnes-Romanadaption Vom Ende einer Geschichte mit Jim Broadbent und Charlotte Rampling und der Netflix-Produktion Unsere Seelen bei Nacht mit Robert Redford und Jane Fonda ist Batra mit dieser warmherzigen Romanze zu seinen Wurzeln und in seine Heimatstadt Mumbai zurückgekehrt. In dieser am 27. Januar 2019 beim Sundance Filmfestival 2019 uraufgeführten und am 13. Februar 2019 bei der 69. Berlinale in der Gala-Reihe erstmals in Deutschland präsentierten bezaubernden, zart-bittersüßen Liebesgeschichte setzen sich die beiden Protagonisten binnen gut einhundert Minuten über die Grenzen von Tradition und Moderne, von sozialer Schicht und Familie hinweg.

Ein Foto verändert ihr Leben für immer lautet der Untertitel eines Films, der in Umkehrung der kitschig-melodramatischen Bollywood-Produktionen, in denen die stets attraktiven Mädchen nichts anderes zu tun haben als die männlichen Helden anzuhimmeln, einen realistischen Blick auf eine allmählich im Wandel befindliche indische Gesellschaft offenbart. Und dabei gleichzeitig märchenhafte Züge aufweist, wenn etwa Rafi sich vom Geist eines Toten (Vijay Raaz) raten lässt, sich selbständig zu machen und er tatsächlich die Bruchbude ausfindig macht, in der ein inzwischen greiser Mann die einst so erfolgreiche, dann aber von den bekannten US-Marken verdrängte indische Campa Cola in Kleinstauflage abfüllt – Milonis Lieblingsgetränk aus Kindertagen.

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Photograph, von den Amazon Studios mitproduziert für die anschließende Streaming-Auswertung, lässt viele Fragen offen. Was ich für einen großen Vorzug dieses Films halte, der am Donnerstag, 8. August 2019, bundesweit in den Kinos startet und unter anderem im Casablanca Bochum läuft.

| Autor: Pitt Herrmann