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Hanna Hilsdorf in der Titelroller.

Die Jüdin von Toledo

Saisonauftakt in Bochum

Mit der Dramatisierung von Lion Feuchtwangers 500-Seiten-Roman „Die Jüdin von Toledo“ hat Johan Simons, der die Tradition der regieführenden Intendanten am Schauspielhaus Bochum fortsetzt, gleich zum Beginn seiner Ära ein starkes, bekenntnishaftes Zeichen gesetzt. Für Toleranz gegenüber Menschen jeglicher Nationalität, Hautfarbe und Religion. Und gegen den alles zerstörenden Krieg, bei dem es nur Verlierer gibt.

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Risto Kübar, Gina Haller, Pierre Bokma, Michael Lippold, Guy Clemens, Jele Brückner, Hanna Hilsdorf und Ulvi Erkin Teke.

Der gebürtige Niederländer und „Faust“-Preisträger, dessen Arbeiten mehr als ein halbes Dutzend mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden, ist dem Revierpublikum als Ruhrtriennale-Intendant bekannt. Feuchtwangers dreiteiliger Roman, der 1955 im Westen unter dem Titel „Spanische Ballade“ erschien, beruht auf Lope de Vegas Schauspiel „La paces de los reyes y Judia de Toledo“ (1616) nach einer um 1270 entstandenen Chronik des Alfonso X. von Kastilien und Franz Grillparzers Tragödie „Die Jüdin von Toledo“ (1848).

Er spielt zwar im Spanien des 12. Jahrhunderts, ist aber nicht ohne den Holocaust, dem Lion Feuchtwanger im amerikanischen Exil entkam, und den Zweiten Weltkrieg zu denken. „Mich interessiert die Ablösung des feudal Kriegerischen durch den aufkommenden bürgerlichen Humanismus, der seltsamen Kämpfe zwischen dem überzivilisierten spanischen Islam und dem rohen und eleganten christlichen Rittertum und den Juden in der Mitte, der Heilige Krieg, der Kreuzzug und die Judenverfolgungen, Geschehnisse, die so seltsam ineinandergreifen“ schreibt Feuchtwanger am 15. März 1954 an Arnold Zweig. „Darstellen will ich also, welch ungeheuren Widerstände der Kampf um den Frieden überkommen muß. Das Schicksal meines jüdischen Ministers Jehuda Ibn Esra wiederholt auf einer sehr viel höheren geistigen Ebene das Schicksal des Jud Süß.“

Koen Tachelets Dramatisierung, heftig umjubelte Premiere der dreieinhalbstündigen Inszenierung war am 1. November 2018, hält sich auf den ersten Blick eng an die vom biblischen Buch Esther im Alten Testament beeinflusste Romanvorlage: Der im kastilischen Toledo situierte christliche König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke) liebt die Tochter seines jüdischen Finanzberaters Jehuda (Pierre Bokma), Raquel (Hanna Hilsdorf). Nicht nur für den Erzbischof Don Martin (Guy Clemens), sondern auch für den Toleranz predigenden Beichtvater des Königs, Rodrigue (Michael Lippold), und für Ephraim (Jele Brückner), Leiter der jüdischen Gemeinde, ja selbst für Jehudas Freund, den muslimischen Gelehrten Musa Ibn Daud (Gina Haller), eine höchst gefährliche Liaison.

Als der römische Papst zum Kreuzzug aufruft, ist Jehudas Plan, den Friedens durch eine glänzende wirtschaftliche Entwicklung Kastiliens zu sichern, zum Scheitern verurteilt. Intrigen der Königin Leonor (Anna Drexler), ihrer Mutter (Jele Brückner) und des fanatischen Ritters De Castro (Guy Clemens) lassen Alonso überhastet in die Schlacht bei Arroyos ziehen. Das Heer des Kalifen (Gina Haller) führt den Christen eine vernichtende Niederlage bei. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht: Jehuda, Raquel und ganz generell die Juden...

Auf den zweiten Blick nehmen Bühnenfassung und Inszenierung die Vorlage Feuchtwangers metaphorisch: die ständig rotierende Drehbühne von Johannes Schütz wird mittig geteilt durch eine Styroporwand, an der das zehnköpfige Ensemble zu beten scheint wie an der Klagemauer Jerusalems. Das ist die Stadt und der Ort, um dem sich bis heute Moslems, Christen und Juden streiten – ohne Hoffnung auf eine friedliche Lösung.

Der alte muslimische Gelehrte ist weiblich und zeigt viel Bein in kurzen Hosen, die jüdische La Fermosa ein blondes Girlie, der Kaufmann Escrivano ein umtriebiger, eloquenter Politiker und der König kein strahlender ritterlicher Held, sondern ein kleiner Junge an der Seite einer zielstrebigen Gattin, die daheim die Hosen an hat, obwohl sie im kurzen Rock unterwegs ist: Johann Simons‘ die Geschlechterrollen durcheinander würfelnde Besetzung und die ganz heutigen Kostüme von Greta Goiris unterstreichen den Zeichencharakter dieser selbst nach tausend Jahren auch ohne aufgesetzte Aktualisierung noch gültigen Geschichte.

Für die Simons starke Bilder findet auf der von Requisiten freien Weltenscheibe: Vertreter aller Religionen sind – wie im wahren Leben des 21. Jahrhunderts – an der Zerstörung unserer Welt beteiligt, es gibt kein Schwarz-Weiß in der Unterscheidung von Gut und Böse, auch wenn uns Europäern das gerade wieder Populisten von Links und Rechts weismachen wollen. Am Ende kippt die Erde und die Bruchstücke mutieren zu Caspar David Friedrichschen Eisschollen.

Ein großer Einstand vor zahlreicher Prominenz, darunter auch das ja in Bochum bestens bekannte Dreigestirn aus Claus Peymann, Hermann Beil und Jutta Ferbers. Sollte sich da künftig eine Zusammenarbeit an der Königsallee ergeben? Das materialreiche Programmheft und das Textbuch der Bochumer Fassung erinnern jedenfalls an alte Zeiten, die englischen Übertitel daran, dass sich die Zeiten geändert haben.

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Freilich kann an einem solchen Abend, der die Vorlage naturgemäß simplifiziert, was hier besonders bei der Sprache Feuchtwangers schmerzt, nicht alles gefallen. Doppelbesetzungen (Guy Clemens, Jele Brückner und, extrem, Gina Haller), Rollenzusammenfügungen (Risto Kübar vereint den hinterhältigen Gärtner, der Racquel erschlägt, und den blinden Eremiten Diego) und Erfindungen (Veronika Nickl als um die verfolgten fränkischen Juden bittende Rabbi Tobia mit durchaus aktuellem Bezug zum Konflikt zwischen zugewanderten orthodoxen Juden aus Osteuropa und liberalen westdeutschen Juden) sind problematisch, V-Effekte überflüssig (Don Martin schnürt sich bei der Verkündigung des Heiligen Krieges gefühlt minutenlang die Schuhe, Kriegslust als spektakulär an der Rampe vollzogene sexuelle Geilheit, der christliche Fundamentalist De Castro mit Kippa, finale Bodenakrobatik) und gezielte Umdeutungen Feuchtwangers ärgerlich. Zu ihnen gehört, dass sich Leonor zunächst auf die Seite Jehudas stellt und ihren Gatten als „Mein kleiner Junge“ nicht für voll nimmt.

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  • Sonntag, 4. November 2018, um 19 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann
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