
Satire auf den Wissenschaftsbetrieb
Neu im Kino: Weitermachen Sanssouci
Prolog. Astronomische Station, Beobachtungen der Gestirne mit einem riesigen Teleskop. Eine Erzählerin, es ist Sophie Rois, erklärt, dass die Erde nicht die ideale Gestalt einer Kugel hat, wie wir sie später in einem Labor-Raum der Berliner Universität für Virtuelle Realität wie einen aufblasbaren Spielball entdecken. Die Erde sieht neuesten Erkenntnissen gemäß vielmehr aus wie eine Kartoffel – eher oval mit zahlreichen Ein- und Ausbuchtungen.
Kapitel 1. Die Klimaforscherin Phoebe Phaidon (Sarah Ralfs) hat einen Lehrauftrag an dem Institut für Kybernetik der Berliner Universität angenommen. Sie soll das Seminar Einführung in die Simulationsforschung der Institutsleiterin Brenda Berger (Sophie Rois) übernehmen, damit diese sich ganz ihrem von Drittmittel-Geldern finanzierten Projekt zur virtuellen Simulation des Klimawandels widmen kann. Es steht viel auf dem Spiel: Nur wenn die Evaluation am Ende des Wintersemesters erfolgreich verläuft, fließen die Fördermittel weiter. Im anderen Fall droht aufgrund harter Einsparvorgaben der Hochschulleitung sogar die Schließung des Instituts.

Als Phoebe einen Dozenten nach der Cafeteria fragt, lässt Julius Kelp (Philipp Hauß) sogleich alles stehen und liegen und lädt die neue Kollegin zum Kaffee ein. Was die Seminarteilnehmer kaum zur Kenntnis nehmen, sind sie doch gerade mit einer Amazonas-Schildkröte beschäftigt, die eine Studentin aus dem Brasilien-Urlaub mit nach Berlin genommen hat. In der Cafeteria sehen sich Phoebe und Julius mit einer Nudging-App konfrontiert, die Daten zur Verhaltens-Ökonomie sammelt.
Kapitel 2. Der neu berufene Stiftungsprofessor Alfons Abstract-Wege (Bernd Moss), der als „Vater des Nudging“ gilt, arbeitet an einem Projekt zur Ernährungskontrolle, was die Studenten missverstehen: Sie befürchten einen Business-Plan zu ihren Ungunsten und besetzen die Unibibliothek. Kapitel 3. Eine Unternehmensberaterin (Maryam Zaree) wird hinzugezogen – als Controllerin, welche die ganze Hochschule betriebswirtschaftlich durchleuchten soll unter der Fragestellung: „Wem nützt das denn?“. Aber auch als Motivations-Coach, denn es liegt für die Uni viel Geld auf der Straße, Stichworte sind Greentec und Politikberatung.
In den weiteren fünf Kapiteln reisen Julius und Phoebe zu einem „Utopia“-Kongress nach Gdansk (Danzig). Letztere schaut sich zunächst Sehenswürdigkeiten der Stadt an, wozu natürlich die Lenin-Werft gehört, Ausgangspunkt des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten des Ostblocks, aber auch eine Kirche mit einem Bildnis des Jüngsten Gerichts. In der Arbeitsbesprechung zur Vorbereitung einer Präsentation vor den Sponsoren des Instituts werden generelle Fragen gestellt, auf die es nicht nur nach Julius' Ansicht zu keiner Zeit der Menschheitsgeschichte einfache Antworten gegeben hat, wenn überhaupt: Was ist der Sinn der Wissenschaft? Wie sollen wir leben? Was sollen wir tun? Brenda Berger zeigt sich unzufrieden mit dem aktuellen Stand: Phoebe Phaidon sei schließlich eingestellt worden, „um den Laden am Laufen zu halten“. Und nun störe die Bibliotheks-Besetzung die so notwendige Einwerbung von Drittmitteln. Phoebe und Julius aber kriegen doch noch die Kurve, während es sich besagte Schildkröte im Salatbuffet der Cafeteria gut gehen lässt. Große Hitze, hohe Luftfeuchtigkeit, Schneefall – die Präsentation vor den Sponsoren wird zur ganz real empfundenen Simulation und damit zum durchschlagenden Erfolg - Apokalypse now...
Zum „Europäischen Kinotag“ am 13. Oktober 2019, den u.a. die Bochumer Schauspielerin Sandra Hüller mit dem belgischen Filmemacher-Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne als künstlerische Patin promotete, präsentierte Regisseur Max Linz im Berliner Citykino Wedding mit Weitermachen Sanssouci seine satirische Bestandsaufnahme unseres durchkapitalisierten Hochschulsystems, in dem die Akquise von Fördergeldern wichtiger erscheint als Forschung und Lehre. Er kennt den Universitätsbetrieb aus eigener Anschauung: Nach sieben Semestern schloss er sein Filmwissenschafts-Studium an der Freien Universität Berlin mit dem Bachelor-Grad ab, gehörte damit zum ersten Jahrgang nach der Hochschulreform. Anschließend setzte er noch ein Regiestudium an der Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) drauf – und präsentierte sich dem jungen Publikum im Centre Francais als so eloquenter wie kluger Intellektueller, der mit illusionsbrechenden Verfremdungseffekten Bertolt Brechts (Kunstsprache) arbeitet und seinem Publikum einiges abverlangt.
Die Erde als Kartoffel, die Umwidmung des bekanntesten protestantischen Kirchenlieds in „Danke für die erhebende Geschichte“, die Schildkröte im Salatbuffet der Mensa – geht alles als Satire durch, wenn auch kaum als „bittere“, wie Till Kadritzke nach der Uraufführung im „Spiegel“ geschrieben hat. Aber: Was bitte ist Nudging? Was verhandelt Stafford Beers „Project Cybersyn“, was hat „Kybernetik im sozialistischen Chile“, was haben historische (Hochschul-) Aufnahmen vom Pinochet-Putsch gegen Salvador Allende mit Exzellenz-Universitäten des 21. Jahrhunderts zu tun? Kann Max Linz persönlich minutiös und einleuchtend erklären – sein 80-minütiger Film dagegen lässt alle Fragen offen.
Gedreht u.a. im Institut für Mathematik der Technischen Universität Berlin, dessen Architektur paradigmatisch für die Reformuniversitäten der 1969er und 1970er Jahre steht, hat sich Max Linz in seiner durchaus politischen Komödie gegen neoliberale Entwicklungen der Hochschulen auch an Rainer Werner Fassbinders Science-Fiction-Zweiteiler Welt am Draht aus dem Jahr 1973 orientiert, in dem der geniale Wissenschaftler Professor Vollmer (Adrian Hoven) in seinem Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung mit Hilfe des elektronischen Computer-Monstrums „Simulacron“ eine künstliche Welt geschaffen hat, die von Menschen bewohnt wird, welche nicht wissen, dass sie nur im Laborversuch existieren, mit dem politische, gesellschaftliche und ökonomische Vorgänge der Zukunft möglichst exakt simuliert werden.
Die Lebensgefährtin des Regisseurs, Sarah Ralfs, mit der Theaterwissenschaftlerin ist Max Linz seit gemeinsamen Studienzeiten zusammen, die schon in seinem Erstling „Ich will mich nicht künstlich aufregen“ (2014) die Hauptrolle gespielt hat, führt am leicht optimistischen Ende von Weitermachen Sanssouci in einem Bachlauf ihre Forschungen ungerührt fort, als sei nichts gewesen. An ihrer Seite aber setzt die große Diva der alten Castorfschen Volksbühne, Sophie Rois, mit ihrer unvergleichlichen Leinwandpräsenz in Auftreten und Stimme die Akzente.
Der merkwürdige Titel dieser komödiantischen Farce mit surrealen Momenten, uraufgeführt am 12. Februar 2019 im Forum der 69. Berlinale, bezieht sich auf Herbert Marcuse, der den lesenden Lebenden auf seinem Grabstein die Aufforderung „Weitermachen“ hinterlassen hat in der Erkenntnis, sein Ziel eines von Vernichtungsdrohungen befreiten Lebens, eines Sanssouci im Diesseits, nicht erreicht zu haben. Weitermachen Sanssouci kommt am 24. Oktober 2019 in die Kinos – gerade rechtzeitig also zum Semesterbeginn der Universitäten. Im Revier zu sehen nur im Sweet Sixteen an der Immermannstraße 29 in der Dortmunder Nordstadt.