
Neu im Kino: Sibel
Die 25-jährige Sibel (Damla Sönmez) hat ihre Mutter verloren und lebt mit ihrem Vater Emin (Emin Gürsoy), dem geachteten Bürgermeister, und ihrer jüngeren Schwester Fatma (Eli Iscan) in einem abgeschiedenen Dorf am Schwarzen Meer. Sie ist seit ihrem fünften Lebensjahr, als sie ein schweres Fieber nur knapp überlebte, stumm, kann sich aber mittels einer im Ort nach wie vor genutzten Pfeifsprache verständigen. Da sie kein Kopftuch trägt und sehr selbstständig agiert, wird sie von den konservativen Dorfbewohnern gemieden und ausgegrenzt. Dabei ist dieses selbstbewusste Aschenputtel, das ganz selbstverständlich eine Schlange erschießt, die den Pflückerinnen in der Teeplantage hätte gefährlich werden können, gerade aufgrund ihres freien Wesens der ganze Stolz ihres Vaters. Der klare Vorstellungen von seinem eigenen Leben als Witwer hat und sich keinesfalls der öffentlichen Meinung beugt, sich doch wieder neu zu verheiraten – schon der Kinder wegen. Er hat zu Sibel, die sich sehr vor den Kandidatinnen der Heiratsvermittlerin fürchtet, ein sehr offenes, von gegenseitigem Vertrauen geprägtes Verhältnis.
Andererseits kann das Handicap auch von Vorteil sein. Sibel entwickelt sich anders als ihre gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen. Weil sie zu keiner so zentral bedeutsamen Kaste gehört und Mütter nicht wollen, dass sie einen ihrer Söhne heiratet. Während die anderen jungen Frauen ihres Alters schon zwei Kinder haben, ist Sibel noch frei – und das in jeder Hinsicht. Sie kümmert sich rührend um Narin (Meral Cetinkaya), eine alte, alleinstehende Frau, die im Dorf als „alte Verrückte“ verschrien ist und in einer Klause hoch oben in den Bergen lebt: Narin steht ihr gerade aufgrund ihrer Selbständigkeit so nahe wie eine zweite Mutter. Sibel will der eigenen Isolation dennoch entkommen, zumal ihre Schwester kurz vor der Verheiratung steht, was einem gesellschaftlichen Ereignis gleichkommt. Sie versucht, akzeptiert zu werden, sich der Gemeinschaft einzufügen, und den Anderen zu zeigen, dass sie es wert ist, wenn schon nicht geliebt so doch geachtet zu werden. Weshalb Sibel Wolfsfallen mit Ködern bestückt und immer wieder selbst mit dem Gewehr die Wälder durchstreift. Sie ahnt, dass es etwas in ihr gibt, das noch verschüttet ist und sich entfalten will, aber sie weiß noch nicht, wo sie danach suchen soll.

Bei der Jagd auf besagten Wolf, vor dem die ganze Dorfgemeinschaft zittert, stößt Sibel eines Tages auf Ali (Erkan Kolcak Köstendil), einen verwundeten Wehrdienstverweigerer, der als Deserteur von der Armee und der Polizei gesucht wird. Sie versteckt ihn in einer Waldhütte und heilt seine Wunden mit Kräutern. Da er ihr unvoreingenommen begegnet, ja sich wie ihr Vater nicht in ihr freies Leben einmischt, sondern im Gegenteil keinen Versuch unternimmt, Sibel geschlechtsspezifisch in eine dienende, unterwürfige Ecke zu schieben, sieht er sie mit ganz anderen Augen: nämlich als starke und schöne Frau – für Sibel eine völlig neue Erfahrung...
Das auch privat verbandelte türkisch-französische Regieduo Cagla Zencirci und Guillaume Giovanetti zu den Dreharbeiten ihrer eindrucksvollen Emanzipationsgeschichte einer Außenseiterin: „Alle gepfiffenen Dialoge im Film sind real. Lange vor den Dreharbeiten betreute ein Pfeifsprachen-Coach die Hauptdarstellerin, um ihr die Sprache beizubringen. Und beim Drehen arbeitete er als Berater und überwachte die sprachliche Stimmigkeit. Für ihn war der Film ein Segen, dass der Film eine Sprache hervorhebt, die er jeden Tag benutzt und deren Untergang er nicht akzeptieren kann. Deshalb engagierte er sich jeden Tag für das Projekt, ebenso wie viele Dorfbewohner, die uns willkommen hießen und uns beträchtlich halfen. Aber andere arbeiteten einfach weiter auf dem Feld, und einige ignorierten die Dreharbeiten. Es kam vor, dass Sibel das Wort Papa während einer Aufnahme pfiff, und kurz danach hörten wir als Antwort aus der Ferne Was ist? Was willst Du?.
Nach Noor (Pakistan, 2012 / Cannes) und Ningen (Japan, 2013 / Toronto) ist Sibel ihr dritter Spielfilm, der im August 2018 im Wettbewerb des Locarno Festivals uraufgeführt und gleich dreifach ausgezeichnet wurde: Fipresci-Preis der internationalenFilmkritik, Preis der Jugend- und der Ökumenischen Jury. Beim Internationalen Filmfestival Adana/Türkei gab's anschließend den Preis für den besten türkischen Film, für die beste Darstellerin (Samla Sönmez) und den besten Nebendarsteller (Emin Görsoy). Beim Filmfest Hamburg 2018 ist der Produzentenpreis in der Kategorie Beste europäische Kino-Koproduktion hinzugekommen. Sibel, gedreht in Kusköy, der Stadt der Vögel am Schwarzen Meer, in der die Pfeifsprache, eine Umsetzung der türkischen Sprache in Silben und Laute, noch lebendig ist und in der Schule gelehrt wird, ist auch ein kritischer Kommentar zur Terroristen-Hysterie des autoritären Erdogan-Regimes. Statt eines Happy Ends drückt der 95minütige Film eine leise Hoffnung aus – auf die Emanzipation der jungen Frauen der Generation Internet von mittelalterlichen Werten und Strukturen reaktionärer Islamisten. Er ist am 27. Dezember 2018 im Kino Endstation im Kulturbahnhof Bochum-Langendreer sowie im Sweet Sixteen in der Dortmunder Nordstadt gestartet, wird in der zweiten Woche aber nur noch im Sweet Sixteen sowie im Düsseldorfer Bambi gezeigt, was ich ausgesprochen schade finde.