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Fünf Asperger-Nerds wollen die Welt retten (v.l.): Rachel (Danai Chatzipetrou), Pavel (William Cooper), Kemal (Konstantin Bühler), Maggy (Mona Vojacek Koper) und Ben (Oliver Möller).

„RCE #RemoteCodeExecution“ nach Sibylle Berg

Lisa Nielebocks Minimalismus überzeugt

Bochum war für Sibylle Berg, die vor 63 Jahren zu DDR-Zeiten in Weimar geborene, 1984 nach Hamburg übergesiedelte und seit vielen Jahren in Zürich lebende Europa-Abgeordnete der Satire-Vereinigung „Die Partei“ schon immer ein gutes Pflaster, erinnert sei an die drei Uraufführungen „Helges Leben“, „Schau, da geht die Sonne unter“ und „Das wird schon“ zu Beginn der Nullerjahre, als noch regelrecht für die Bühnen geschriebene Dramen die Spielpläne beherrschten.

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Heute werden diese von Adaptionen bestimmt, so auch zu Saisonbeginn an der Bochumer „Kö“ mit Romanen von Dostojewski (zu Johan Simons‘ Jux später vielleicht mehr) und Berg. Beim 704-seitigen Roman „RCE #RemoteCodeExecution“ von 2022 handelt es sich um den Mittelteil einer Trilogie, die 2019 mit der 640-seitigen Dystopie „GRM Brainfuck“ über vier junge Londoner, die das kapitalistische System der „gelenkten Demokratie“ sprengen wollen, begann. George Orwell 2.0 sozusagen, und leider schon heute sehr real.

Weniger ist mehr

„GRM“ kam als Musical-Version Sebastian Nüblings erstmals 2021 am Hamburger Thalia-Theater heraus, „RCE“ 2024 am Berliner Ensemble als aufwändiges Cyberspektakel mit zwölf Digital Artists und fünf aus dem 3-D-Drucker entsprungenen Schauspielern. Diesem nur 75-minütigen Hightech-Spektakel des früheren Dortmunder Intendanten Kay Voges, der nun am Kölner Schauspiel gelandet ist, setzt die frühere Bochumer Hausregisseurin und aktuelle Folkwang-Professorin Lisa Nielebock nun ein 90-minütiges reines Schau-Spiel in der minimalistischen Ausstattung von Oliver Helf (Bühne) und Sofia Dorazio Brockhausen (Kostüme) entgegen.

Was dem Textverständnis der nach wie vor findungsreich-wortmächtigen Autorin, die ihre herrlich zugespitzten realsatirischen Pointen gegen den Kapitalismus im Allgemeinen und die alten weißen Männer im Besonderen durchaus auch selbstironisch einsetzt, zugutekommt – zumal bei all‘ den nicht nur für Letztere nur schwer verständlichen Bezeichnungen und Abkürzungen einer schönen neuen Welt wie RFID-Technologie (automatische kontaktlose Erfassung und Identifikation mittels Funkwellen), CRISPR-Genschere (molekularbiologische Methode zur DNA-Veränderung) oder Kryptografie (Informationssicherheit). Auf den Brettern hilft freilich kein Bergsches Glossar im Roman-Anhang. Apropos: Der Fachbegriff „Remote Code Execution“ im Titel erläutert die Handlungsweise der Hacker, indem sie über Sicherheitslücken unerwünschte Programmcodes in Computersysteme einschleusen.

Oliver Möller gibt als Ben auch am Schlagzeug den Takt an.

Konzentrierte Fassung

Lisa Nielebocks Fassung konzentriert sich auf einen Ort (ein kleines Dorf im Schweizer Tessin) und fünf (nicht mehr ganz) junge Asperger-Nerds, die aus einem Container heraus die Welt retten wollen, indem sie die weltumspannenden Mega-Techkonzerne mit deren eigenen Mitteln schlagen und die Menschen wachrütteln wollen: Rachel (Danai Chatzipetrou), Maggy (Ensemble-Neuzugang Mona Vojacek Koper), Pavel (William Cooper), Kemal (Konstantin Bühler) und Ben (Oliver Möller), der zwischendurch auch am Schlagzeug den Ton angibt. „Hast du Angst? Viel Angst?“: Geschickt werden die unterschiedlichen Teile des immer wieder auf der Zeitachse switchenden Roman-Geschehens zu einem stringenten Ganzen zusammengefügt, indem ein eher niedergeschlagener denn wütender Oliver Möller mit dem ersten Romankapitel startet, während Mona Vojacek anschließend die „verspannte Frau“ gibt mit dem politisch völlig unkorrekten Zitat über „fickbare Frauen“, das sich trotz seines leider wahren Kerns kein männlicher Autor hätte leisten können.

Kurzweiliger Abend

Das kalte Neon-Bühnenlicht wird schlagartig wärmer, als von der Utopie einer solidarischen Gesellschaft in einem intakten Ökosystem die Rede ist, dem Ziel der „Rettungsmission“ in Sibylle Bergs Wahl-Heimat. Freilich hatten schon die Sozialisten des 20. Jahrhunderts den „Neue Menschen“ schaffen wollen und waren an der These, dass nicht die Abstammung, sondern die Erziehung maßgeblich ist, krachend gescheitert. Ob der Neustart mit der Revolution gegen die Revolution Erfolg hat, bleibt am Ende offen – im Roman, dem bald der abschließende dritte Teil folgen soll, wie in der Dramatisierung. Die in Bochum mit einer allegorischen Überhöhung endet: Das nach Kamals Tod auf ein Quartett geschrumpfte Ensemble verkleidet sich in gefiederte Figuren des alemannisch-eidgenössischen Fas(t)nachtsgeschehens.

Weniger ist mehr lautet die Essenz eines höchst kurzweiligen Abends mit einem außerordentlich spielfreudigen Ensemble, das jede sich bietende Möglichkeit nutzt, Monologe in dialogische Szenen zu verwandeln.

Die nächsten Aufführungen

Die nächsten Aufführungen in den Kammerspielen:

  • Sonntag, 5. Oktober 2025, 19 Uhr (10 Euro-Tag, Einführung 18:30 Uhr)
  • Mittwoch, 29. Oktober, 19.30 Uhr (Einführung 18:30 Uhr)
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Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel. 0234 – 33335555.

Oktober
5
Sonntag
Sonntag, 5. Oktober 2025, um 19 Uhr Schauspielhaus Bochum, Königsallee 15, 44789 Bochum
Weitere Termine (1) anzeigen...
  • Mittwoch, 29. Oktober 2025, um 19 Uhr
Montag, 29. September 2025 | Autor: Pitt Herrmann