
Einen Jux will er sich machen
Dostojewskis 'Spieler' in Bochum
In Fjodor M. Dostojewskis autobiographisch grundiertem Roman „Der Spieler. Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes“, dessen 167 Seiten er 1866 einer Vereinbarung mit seinem Verleger gemäß seiner Sekretärin und späteren Gattin Anna Grigorjewna binnen 26 Tagen diktiert haben soll, kehrt der Ich-Erzähler Alexej Iwanowitsch (in der Bochumer Neuinszenierung des Intendanten Johan Simons teilen sich Victor IJdens und Alexander Wertmann die Titelrolle hinter angeblichen Dostojewski-Masken) nach zweiwöchiger Abwesenheit in den fiktiven deutschen Kurort Roulettenburg zurück.
Der für Wiesbaden steht, hat Dostojewski doch, als er 1863 ein zweites Mal nach Westeuropa reiste, um in Paris seine Geliebte Polina Suslova zu treffen, erstmals in der dortigen Spielbank am Roulette-Tisch sein Glück versucht. Und das zwei Jahre später am gleichen Ort noch einmal wiederholt – erneut vergeblich. Dostojewski verzockte den Vorschuss seines Verlegers für den kaum konzipierten Roman „Igrok“ („Der Spieler“), den er dann in Windeseile zu Papier bringen musste, um weiteres Geld zu erhalten.
Powerfrau mit Rampensau-Allüren
Alexej also ist nach Roulettenburg zurückgekehrt, und das nicht mit leeren Händen. Der Hauslehrer des notorisch klammen russischen Generals (Stefan Hunstein), der sich um dessen beiden Kinder Mischa und Nadja zu kümmern hat, konnte viertausend Francs auftreiben und dazu noch die Brillanten der Stieftochter seines Arbeitgebers, Paulina Alexandrowna (französische Eleganz in Outfit und Gesang: Abenaa Prempeh), versetzen.
Das reicht für eine gewisse Zeit, bis endlich Gewissheit über die offenbar beträchtliche Erbschaft herrscht, die beide von der Großmutter zu erwarten haben. Und mit ihnen ihre Gläubiger, der elegante französische Marquis de Grieux (der quirlige Ensemble-Neuzugang Carla Richardsen) und der grenzenlos in Paulina verliebte, aber „bis zur Dummheit“ schüchterne Engländer Mr. Astley (Lukas von der Lühe). Freilich harrt auch Mademoiselle Blanche de Cominges (Powerfrau mit Rampensau-Allüren: Stacyian Jackson), die potentielle Generalin, einer positiven Nachricht aus Moskau.
Auf russische Art über die Stränge schlagen
Alexej, der selbst mehr als nur ein Auge auf Paulina geworfen hat, wird von ihr dazu gebracht, erstmals das Casino zu betreten und die 700 Florin, die er für ihren Schmuck erhalten hat, aufs Spiel zu setzen. „Das Gesindel spielt tatsächlich auf sehr schmutzige Art und Weise“: Mit großer Skepsis, aber mindestens ebensolcher Neugier nähert sich Alexej dem Roulette-Tisch, an dem ihm zunächst das Anfänger-Glück hold ist.

Aber er verliert alles – und lästert über die „deutsche Art, Reichtümer anzuhäufen“: Kleinbürgerliche Ehrbarkeit und Spießigkeit, Patriarchat und Sparsamkeit. „Ich möchte lieber auf russische Art und Weise über die Stränge hauen oder mich beim Roulette bereichern“ bekundet Alexej dem General.
Fulminanter Auftritt im Rollstuhl
Als die angeblich todkranke Antonida Wassiljewna Tarassemitschewa (fulminant-grandioser Auftritt im Rollstuhl: Karin Moog), Moskaus Grande Dame La Baboulinka und besagte Erb-Großmutter, quicklebendig auftaucht, um „in den Rheinstädten“ auf eigene Rechnung am Roulette-Rad drehen zu lassen, gibt’s bis auf Alexej, den sie zum Vertrauten erhebt, reihenweise lange Gesichter. Denn die rüstige „Alte“ ist sogleich der Spielsucht verfallen und lässt die Ihrigen völlig zu Recht um ihr Erbe fürchten.
Während Alexej, um Paulina zu retten, gleich mehrfach die Bank sprengt in einer Nacht des Wahnsinns, reist eine zwar nicht gerade völlig verarmte, aber doch um ihr ganzes Vermögen an Bargeld und Bankpapieren erleichterte Baboulinka nach Moskau zurück. Paulina hält sich an den Engländer – und Blanche an den nun wohlhabenden Alexej, mit dem zusammen sie das kleine Vermögen in Paris verprassen will: „Morgen, morgen wird alles ein Ende haben!“ verspricht der Ich-Erzähler auf Seite 167…
Den Stoff erneut vorgenommen
Johan Simons, der bereits 2004 in Koproduktion mit ZT Hollandia und NT Gent eine Dramatisierung des Romans von Tom Blokdijks, welche die Handlung in unsere Zeit transponiert, inszenierte, hat sich den Stoff nun zum Saisonauftakt am Schauspielhaus Bochum erneut vorgenommen. Und zwar in einer neuen Übersetzung von Alexander Nitzberg, welche die laut „Theater heute“-Kritikerumfrage „Dramaturgin des Jahres 2024“ Angela Obst für die Bühne adaptiert hat.
Und das in einem höchst artifiziellen Schwarz-Weiß-Bühnenbild unter einem strahlenförmigen Neon-Spinnennetz von Johannes Schütz: Hinter dem gewaltig dimensionierten weißen Rouletterad mit roter Kugel drehen sich ein halbes Dutzend Wände für die Videos von Voxi Bärenklau, die Simons und einige Darsteller am Hohensyburger Tisch zeigen – rechtzeitig zur Feier des 40. Geburtstages des ersten Casino-Neubaus in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Beste Unterhaltung
„Einen Jux will er sich machen“: Frei nach Johann Nestroy, der Intendant ist schließlich gleich mehrfach mit dem österreichischen Theater-Oscar ausgezeichnet worden, haben Johan Simons, der sich am Premierenabend des 27. September 2025 im Parkett köstlich amüsierte, und seine Stellvertreterin Angela Obst aus einem Dostojewski-Roman einen über zwei Stunden bestens unterhaltenden Abend gemacht – mit Gustostückerln fürs Bildungsbürgertum (Tschechows „Drei Schwestern“) und einem abwechslungsreichen Soundtrack von Paul Lincke („Frau Luna“) bis Jacques Dutronc („Paris s'éveille“).
Welche die ganzen bedeutungsschwangeren Vorab-Bekundungen des Produktionsdramaturgen Moritz Hannemann (Kapitalistische Gesellschaft von raffgierigen Spielern, biographische Bezüge zur Familie des Regisseurs) zu Makulatur werden lässt. Mit Ausnahme des Einfalls, die Rolle des Ich-Erzählers Alexej mit zwei Schauspielern zu besetzen: Der eine steht für den Autor, der andere für dessen autobiographische Romanfigur. Dabei hätte es der Masken gar nicht bedurft, die verstärken – wie im Übrigen auch die Mikroports – nur die Artikulationsmängel zahlreicher Ensemblemitglieder.
Running Gag auf hohen Plateauschuhen
Bleibt noch zu erwähnen, dass der Running Gag der kurzweiligen Inszenierung, der auf hohen Plateauschuhen staksende Croupier, von Django Gantz, einem spielfreudigen Gast aus Amsterdam, verkörpert wird und die in der britischen wie in der deutschen Jazz-Szene namhafte Cellistin Genevieve O’Driscoll an der Städtischen Musikschule Herne unterrichtet. So viel Lokalkolorit muss sein. Die nächsten Vorstellungen im Schauspielhaus Bochum:
- Sonntag, 5. Oktober 2025, 19 Uhr
- Sonntag, 26. Oktober 2025, 19 Uhr (10-Euro-Tag)
- Donnerstag, 6. November 2025, 19.30 Uhr
- Sonntag, 16. November 2025, 19 Uhr
Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel. 0234 – 33335555.
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- Sonntag, 26. Oktober 2025, um 19 Uhr
- Donnerstag, 6. November 2025, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 16. November 2025, um 19 Uhr