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Vertreiben die Vertreiber. v.l. Anna Bardavelidze, Jan Pröhl, Dennis Bodenbinder und Trixi Strobel.

Retro-Dystopie am Schauspiel Essen

AufRuhr

„Ich habe einen Traum“ verkündet Essens Oberbürgermeister Kühn (Stefan Migge) und überfliegt zusammen mit der Investorin Van Velt (Janina Sachau) den Essener Norden. „Wir bauen unser aller Zukunft“ verspricht die Bauunternehmerin Haussmann (Laura Sundermann) und meint das „Areal Essen 5.0“. Für die Errichtung der schönen neuen, smarten Welt muss freilich die schäbige alte weichen.

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So beginnt die dreistündige Retro-Dystopie „AufRuhr“ der Dramaturgen Christine Lang und Ulf Schmidt sowie des Regisseurs Volker Lösch, die am 17. Dezember 2021 im Essener Grillo-Theater uraufgeführt worden ist. Dessen Parkett nicht wiederzuerkennen ist: die Stuhlreihen sind ausgebaut. Zwischen großflächigen Videowänden an beiden Längs- und Stirnseiten und einer schmalen, kreuzförmigen Spielfläche in der Mittelachse nimmt das Publikum Platz auf Hockern, deren drehbare Deckel abnehmbar sind, was Assoziationen zu Mülltonnen weckt. Immerhin kann man sich in zwei Pausen von den Rückenschmerzen erholen: Kontemplatives Zurücklehnen ist an diesem geradezu nostalgisch-romantischen Agitprop-Abend nicht erwünscht.

AufRuhr: Retro-Dystopie am Schauspiel Essen. Das Kapital jettet um die Welt: Janina Sachau als Investorin Van Velt.

Der Segen im Hause Haussmann, das naturgemäß im vornehmen Essener Süden situiert ist, hängt schief, nachdem die Pläne des milliardenschweren Megaprojektes bekannt werden. Denn das ist nicht nur zukunftsweisend ökologisch, digital, urban und komfortabel, wie der Prospekt für potentielle Großinvestoren und Kleinanleger verheißt, sondern auch gentrifizierend. Tochter Lena (Trixi Strobel), die sich als heutige Rosa Luxemburg versteht und auf ihrem YouTube-Kanal unter Lena Luxemburg firmiert, sowie ihr Freund, der geniale Hacker Perry (Dennis Bodenbinder), verbünden sich mit den Bewohnern der Nordstadt wie Haussmanns Putzfrau Adile (Anna Bardavelidze) oder dem einstigen Kumpel Erich Grube (Jan Pröhl war schon im Prolog im traditionellen Bergkittel als Taubenvater zu sehen), die aus ihrem Zuhause vertrieben werden sollen.

Und das mit den üblichen kriminellen Entmietungs-Methoden hemmungsloser Kapitalisten bis hin zur blanken Staatsgewalt, für deren Ausübung Polizeikommissar Reich (Philipp Noack) als völlig überzeichnete Karikatur eines schießwütigen Neonazis sogar den Oberbürgermeister ermordet, um in dessen Namen den Räumungsbefehl mit schwerem Gerät und martialischem Kriegswaffen-Arsenal geben zu können. Soweit die offenbar bitterernst gemeinte Dystopie, die sich nur selten Ausflüge zur Aufheiterung des Publikums leistet. Und die fallen dann so aus: „Cranberrys – gut für die Blase.“ – „Für die Immobilien-Blase!“

Für den Retro-Aspekt ist Jan Pröhl zuständig, der immer wieder – filmisch unterstützte – Verbindungen zu den 1920er Jahren herstellt: Zum Kapp-Putsch gegen die Weimarer Republik und zur „Rote Ruhrarmee“ genannten Gegenbewegung der Arbeiter über und unter Tage. Die nicht nur rechten Kampfverbänden und schließlich der Reichswehr unterlag, sondern auch kompromissbereiten Sozialdemokraten und korrupten Gewerkschaften. „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!“: Ganz die Lesart der DDR-Geschichtsklitterung, wie sie im TV-Zweiteiler „Brennende Ruhr“ nach dem gleichnamigen Roman von Karl Grünberg zum Ausdruck kommt, einer Auftragsproduktion zum VII. Parteitag der SED 1967 im 50. Jahr der Oktoberrevolution.

Zwischendurch und zum dann geradezu romantisch-optimistischen Finale sorgen gut ein Dutzend zumeist junger Idealisten für politische Gegenentwürfe, die freilich so neu auch wieder nicht sind (Karl Marx ff.). In einem sind sie sich alle einig: der Kapitalismus ist die Wurzel allen Übels und muss weg. „Enteignet die Enteigner“ lautet die Parole. Und: „Alle Räder stehen still…!“ Bei anderen Detailfragen wie der Ablösung der repräsentativen Demokratie durch eine Räterepublik oder einem Wahlrecht schon für Dreizehnjährige gibt’s noch Diskussionsbedarf.

Weitere Vorstellungen

Donnerstag, 6. Januar 2022, 19 Uhr; Freitag, 7. Januar 2022, 19 Uhr; Freitag, 21. Januar 2022, 19 Uhr; Samstag, 22. Januar 2022, 19 Uhr;

Karten unter theater-essen.de oder Tel 0201 – 81 22 200.

Montag, 20. Dezember 2021 | Quelle: Pitt Herrmann