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Mutation und Selbsttestung rasen aufeinander zu - es könnte also zum Knall kommen.

Kolumne von Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey

Wenn das mal gut geht

Wenn das mal gut geht – die eingebauten Mess- und Denkfehler der Pandemie." - Bei jeder wissenschaftlichen Studie - von reinen Experimentaluntersuchungen bis hin zu statistischen Erhebungen – wird nach Einflüssen gesucht, die das Ergebnis verfälschen können. Handelt es sich um einen systematischen Fehler, heißt der in der Fachsprache „Bias“. Vor allem dann, wenn bestimmte Größenordnungen nicht exakt gemessen werden können, sondern geschätzt werden müssen, ist die Abweichung dieser Werte nach oben und unten von ganz entscheidender Bedeutung.

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Neuinfektionen, R-Wert und Verstorbene

Wir schauen derzeit auf die Zahl der täglichen Neuinfektionen, die Inzidenz pro 100 000 Einwohner pro Woche, den R-Wert und die Zahl der Verstorbenen und tun so, als handele sich dabei um präzise Messwerte. Von präzisen Zahlen sind wir aber meilenweit entfernt. Die Covid-19-Pandemie ist ein Ereignis, das in seiner Größenordnung nur sehr vage geschätzt werden kann. Bei nur etwas genauerer Betrachtung ist leicht feststellbar, dass das wahre Ausmaß des Infektionsgeschehens die gemeldeten Zahlen geradezu grotesk übersteigt

Der Tod an einer Infektion mit SARS-CoV 2 ist ein relativ spektakuläres Ereignis, dem eine umfassende Diagnostik vorausgeht. Somit ist in der Regel ziemlich genau bekannt, woran der jeweilige Patient verstorben ist. Dennoch muss man auch hier mit einer Bias von 2 – 3 Prozent rechnen. Das sind (unter anderen) diejenigen, die bei einem Verkehrsunfall gestorben sind oder ermordet wurden und zufällig coronapositiv getestet wurden. Im Vergleich zu den sonstigen Zahlen, mit denen üblicherweise operiert wird, ist die Zahl derer, die nur mit und nicht an Covid-19 gestorben sind, aber verschwindend gering.

Leider sagt die Zahl der Toten nur etwas über das Infektionsgeschehen 3 Wochen zuvor aus – plus und minus 8 – 10 Tage früher oder später. Hilfreich ist die Zahl der Verstorbenen aber, um die tatsächliche Dimension des Infektionsgeschehens einschätzen zu können. Dazu muss man die Wahrscheinlichkeit kalkulieren können, wie viele Menschen an der Infektion versterben. Wir wissen inzwischen, dass die Sterblichkeit von Covid-19 stark vom Lebensalter abhängt, viel stärker als von der Qualität der Gesundheitssysteme. So sind in den afrikanischen Staaten trotz hoher Infektionszahlen nur relativ wenige an Covid-19 gestorben, wohl einfach nur deshalb, weil die durchschnittliche Lebenserwartung in diesen Ländern aufgrund der sozialen und politischen Verhältnisse relativ gering und das Durchschnittsalter der Bevölkerungen entsprechend niedrig ist. Im Gegensatz dazu hat Sachsen im Dezember 2020 eine Übersterblichkeit von mehr als 100 Prozent erlebt. Unter anderem deshalb, weil die junge Bevölkerung zu großen Teilen abgewandert ist, hat sich dort ein ungewöhnlich hoher Altersdurchschnitt ergeben.

Man sieht also, selbst die relativ genaue Zahl der Corona-Opfer lässt aufgrund beträchtlicher Unwägbarkeiten anderer Bezugsgrößen nur eine ungefähre Schätzung der tatsächlichen Infektionszahlen zu, leider mit einer Verspätung von drei Wochen.

Die Sterblichkeit von Covid-19 in unseren Breiten wurde z. B. in der Heinsberg-Studie mit 0,37 Prozent beziffert. Man muss also die Zahl der Toten mit 270 multiplizieren, um auf die tatsächliche Größenordnung der Infizierten vor drei Wochen zu kommen. Im Durchschnitt wurden vom 31. Januar bis zum 5. Februar täglich 8.500 Infektionen erfasst. 3 Wochen später (21. - 26. 2) sind durchschnittlich 346 Menschen täglich gestorben. Tatsächlich dürften also zwischen dem 31.1. und dem 5.2. täglich über 93.000 Infektionen stattgefunden haben, elf mal so viele, wie erfasst wurden.

Das aktuelle Zauberwort zur Einschätzung des Infektionsgeschehens heißt „7-Tages-Inzidenz“. Gemeint ist die durchschnittliche Zahl der täglichen Neuinfektionen innerhalb der letzten 7 Tage. Gezählt werden die Neuinfektionen, die von den Gesundheitsämtern an das RKI gemeldet werden. Diese Zahl hängt aber ab von der Zahl der durchgeführten Tests. Je mehr getestet wird, desto höher ist die 7-Tages-Inzidenz und desto geringer die Dunkelziffer. Und nicht nur davon: auch wer und wo getestet wird ist von ganz entscheidender Bedeutung. Wird in besonderen Clustern und Hotspots getestet oder werden nur diejenigen getestet, die sich im Dunstkreis Infizierter befunden haben, oder auch diejenigen, die keinerlei Symptome haben und nur sicher gehen wollen? In Dänemark ist die publizierte 7-Tages-Inzidenz fast genau so hoch wie in Deutschland. Nur, die Dänen führen 10mal so viele Tests bezogen auf die Bevölkerungszahl durch wie Deutschland. Wenig überraschend liegt die – geschätzte - Dunkelziffer auch nur beim dreifachen der gemeldeten 7-Tages-Inzidenz und nicht beim 11-fachen wie in Deutschland.

Näher an die Realität könnte uns die Quote positiver Corona-Nachweise in Bezug auf die die Gesamtzahl der Tests bringen. Die Zahl ist sogar bekannt, wird aber sehr selten publiziert. Wenn man dazu noch die Zahl der Toten und die Belegung der Intensivstationen mit Covid-19-Patienten auf das Infektionsgeschehen hochrechnen würde, hätte man schon eine ziemlich genaue Vorstellung von der Dimension des Infektionsgeschehens. Mehr als die Dimension kann man nicht zeitnah erfassen, mehr braucht man aber auch nicht. Wichtig zu wissen ist, ob sich circa 100.000 Menschen täglich infizieren und nicht, wie durch die derzeitige 7-Tages Inzidenz suggeriert, nur ein Zehntel davon. Wenn die tatsächliche Inzidenz unter Berücksichtigung der Dunkelziffer in Dänemark bei - circa – 180, in Deutschland aber bei - circa – 600 liegt, erscheint es mir doch ziemlich albern, auch noch Stellen hinter dem Komma anzugeben.

Das Beispiel Dänemark zeigt auch, wie wichtig die – zertifizierte – Testfrequenz ist. Dabei ist es zunächst gar nicht entscheidend, ob ein PCR-Test oder ein Antigen-Schnelltest erfolgt. Wesentlich ist die Konsequenz daraus: Schon bei einem Verdacht auf Infektiosität muss die Quarantäne erfolgen und zwar bis zum Beweis des Gegenteils oder bis zum Abklingen der Infektion.

Da sind wir auch schon bei den jetzt zugelassenen Selbsttestungen. Für den relativ sorglosen Besuch der Großeltern mag das reichen, für den freien Zugang zum Restaurant, zum Kino oder Theater sicher nicht. Dafür braucht es dann schon das Zertifikat desjenigen, der für die ordnungsgemäße Durchführung und Dokumentation des Resultates einsteht. Eine – relative – Sicherheit besteht auch nur für die nächsten 5 – 6 Stunden nach Durchführung des Tests. 2 oder gar 3 Tage danach sind schon ein ziemliches Vabanque-Spiel.

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Ich befürchte, dass derzeit zwei Züge aufeinander zu rasen: Die Ausbreitung der Virus-Mutation B.1.1.7 einerseits und die durch die Möglichkeit der Selbsttestung befeuerte Sorglosigkeit andrerseits. Dazu kommen noch die Drängler aus der Wirtschaft, die mal wieder das „Wasser nicht halten können“. Hoffen wir also, dass wenigstens das Schlimmste durch eine schnelle Impfung der vulnerablen Bevölkerung verhindert werden kann.

| Autor: Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey