
'So lonely' online bei Nachtkritik
Ein Klassiker des Berliner Grips-Theaters, „So lonely“ von Per Nilsson, ausgezeichnet mit dem Ikarus-Preis für Jugendtheater 2011, kann exakt neun Jahre nach der Premiere am Donnerstag, 14. Mai 2020, ab 16 Uhr für 48 Stunden kostenlos im Online-Feuilleton des Theaterportals nachtkritik.de gestreamt werden. Geeignet für alle ab 14 Jahren.
Es ist eine völlig leergeräumte Bühnenfläche im Grips Mitte an der Klosterstraße, die der Ich-Erzähler (mehr klug-selbstreflektierender Werther als angry young man: Robert Neumann), ein vielleicht sechzehnjähriger und jedenfalls aufgebracht-zorniger Schüler, in geschlossener Kapuzenjacke und Sporttasche betritt. Wenig später erscheint auch der Grund seines Unmuts, ein auf den ersten Blick etwa gleichaltriges, durch die leuchtend grüne Jacke über dem bunten Kleid und den Jeans eher verspielt wirkendes Mädchen (lässt sich in keine Rolle drängen und übernimmt dennoch Verantwortung: die weitaus unabhängigere, reifere Jennifer Breitrück), beladen mit den wenigen Requisiten der rund hundertminütigen Urinszenierung Franziska Steiofs: Klebeband, Mikrophon, Herztrost, Telefon, Gitarre.
„Schon als der Bus langsam auf die Haltestelle zufuhr, entdeckte ich das rothaarige Mädchen mit der moosgrünen Jacke...“: Im Bus hat alles angefangen, zehn Minuten Fahrt bis zur Schule, dreimal in der Woche. „Ich war immer ein vernünftiges Kind, das glaubte, für alles gäbe es vernünftige Erklärungen“ blickt der Junge zurück. Um im gleichen Moment unter dem Schrei „Es muss alles verschwinden!“ auszurasten: Die Busfahrkarte wird in 32 Teile zerlegt, der Blumentopf an der Wand zerdeppert, der Duden zerfleddert.
Ann-Kathrin heißt das Objekt seiner Begierde, das sich rasch noch etwas mehr Rot in die blonden Strähnen sprüht und dieser Farbe wegen Foxi genannt wird. Sie reicht ihm das Telefon herüber, dessen Klingeln ihn am Ende dieses zu Herzen gehenden Jugendtheaterstücks nach dem Mitte der Neunziger Jahre auch auf Deutsch edierten schwedischen Roman „So lonely“ retten könnte – auch und vor allem vor sich selbst.
„Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht...“: Die im Grunde gar nicht so neuen Leiden des jungen W. beginnen mit der Frage, wie sich ihr nähern, ohne sich zu blamieren, nicht ins Stottern zu kommen – oder gar überhaupt kein Wort herauszubekommen. Das mit dem Briefeschreiben klappt wie beim ollen Goethe prächtig, hilft ihm hier aber nicht wirklich weiter. So kommt ihm ein Zufall entgegen – und alles entwickelt sich wie von selbst. Wobei der schon erwähnte Duden eine entscheidende Rolle spielt, aber auch der besser unter Zitronenmelisse bekannte Herztrost.

Weil er in den nun beginnenden Ferien für vier Wochen zu einer Gastfamilie in die USA fliegt, und weil die beiden sich immer so viel zu erzählen haben – und weil er gerade sturmfreie Bude hat: Begnadete Körper vereinen sich zur ersten Nacht der Nächte, sehr anmutig im Gegenlicht choreographiert von Franziska Steiof zur grandiosen Musik Johann Sebastian Bachs. In der Premiere soll es bei dieser wundervollen, ganz unverschwitzten Nacktszene noch nicht einmal zu „Übersprungskichern“ im jugendlichen Publikum gekommen sein, was immer Patrick Wildermann im „Tagesspiegel“ darunter versteht. In meiner vormittäglichen Schulklassen-Repertoireaufführung brachen unter den vierzehn- bis siebzehnjährigen Zuschauern geradezu tumultartige Zustände aus, was, nebenbei bemerkt, die Notwendigkeit unterstreicht, das von Grips-Gründer Volker Ludwig vor vier Jahrzehnten begonnene „emanzipatorische“ und „gegenwartsbezogene Mutmachertheater“ fortzusetzen. Wie es der seinerzeit neue künstlerische Leiter Stefan Fischer-Fels im Spielzeitheft 2011/2012 versprochen hat.
Das böse Erwachen für beide kommt nach neunundzwanzig Tagen, als er, vorzeitig über den Großen Teich herübergeeilt, bei ihr auf der Matte steht: Ann-Kathrin ist nicht allein daheim und er ganz fix und foxi. Nun ist, für die letzten Dinge des Lebens, nicht mehr der Weimaraner Klassiker gefragt („Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann, lieb haben darf...“), sondern der Elisabethaner: „Sein oder Nichtsein? Nichtsein. Aber wie? Wie nimmt man sich das Leben? Wie macht man Schluss?“ Und, auf musikalischer Ebene, nach Bach, Leonard Cohen und Pink Floyd, John Lennon: I`m losing you. Andererseits: Es muss doch wohl möglich sein, dass man befreundet ist, ohne immer gleich im Bett zu landen. „Dies ist nicht das Ende. Es läuft nicht der Abspann. Es gibt keinen Film mehr. Aber mich gibt es. Und es gibt dich. Irgendwo am anderen Ende der Leitung. Ich weiß, dass du da bist. Und ich bin froh, dass es dich gibt. Ich und du und irgendwo ein wir.“ Fürs Finale ist Cat Stevens genau die richtige Wahl...
„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“: In Franziska Steiofs so schwer zu machenden locker-flockigen, immer wieder auch wortlos-pantomimischen Inszenierung, für die minimalistische Ausstattung, in der Klebeband alle Spielorte markiert, zeichnet Jan A. Schroeder verantwortlich, schlüpfen beide Protagonisten im fliegenden Wechsel in die Rolle des Erzählers, der auch den Nebentext des Autors spricht und hier auch die Rolle des (selbst-) ironischen Kommentators übernimmt. Robert Neumann und Jennifer Breitrück werden allen diesen Rollen gerecht, ihr furioses Aus-der-Rolle-Fallen provoziert das junge Publikum immer wieder zu spontanen, das unglaublich direkte Spiel der Beiden unterbrechenden emotionalen Reaktionen. Und der zunächst etwas arg konstruiert wirkende Rahmen mit dem Making of eines Films löst sich schließlich in Wohlgefallen auf als Film im Kopf des Ich-Erzählers.