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Am Küchentisch im siebenstündigen Dostojewski-Marathon „Die Brüder Karamasow“ am Schauspielhaus Bochum (v.l.): Steven Scharf, Pierre Bokma, Dominik Dos-Reis (hinten) und Oliver Möller.

'Die Brüder Karamasow' in Bochum

Siebenstündiger Dostojewski-Marathon

„Brat'ja Karamazovy“, dieser letzte, 1879/80 erschienene Roman Fjodor M. Dostojewskis (1821 - 1881), ist ein Moloch in zwölf Büchern und einem Epilog, 1.000 Seiten voller ungelöster Menschheitsfragen, Destillat seines „Tagebuchs eines Schriftstellers“ und Spiegel seiner Figuren, ja seiner dichterischen Welt. Ein für eine Theateradaption unbeherrschbarer Brocken, sollte man meinen, eher geeignet für eine der heute so beliebten Streaming-Serien.

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Schließlich dreht es sich in „Die Brüder Karamasow“ um Väter und Kinder, um Liebe und Hass, um den Glauben an Gott in einer gottlosen Welt – und nicht zuletzt um Mord. Der Roman ist nicht zuletzt auch eine Kriminalgeschichte. In der die drei Brüder Dmitrij (Victor IJdens), Iwan (Steven Scharf) und Aljoscha Karamasow (Dominik Dos-Reis) in ihr Elternhaus zurückkehren und ihrem Vater, einem alten Lebemann, den Tod wünschen.

Moralische Schuld

Als Fjodor Pawlowitsch Karamasow (Pierre Bokma) tatsächlich ermordet wird, fällt der Verdacht sogleich auf Dmitrij, den ältesten Sohn, welcher in die gleiche schöne Frau vernarrt ist wie sein Vater. Der wahre Täter ist jedoch ein unter Epilepsie leidender illegitimer Halbbruder, Pawel Fjodorowitsch Smerdjakow (Oliver Möller), der sich aus Lebensüberdruss, nicht aus Schuldgefühl, das Leben nimmt. Alle drei Brüder, der vermeintliche Täter verbüßt seine Strafe in einem sibirischen Arbeitslager, nehmen die moralische Schuld auf sich...

„Die Brüder Karamasow“ ist nicht nur das letzte, sondern auch das komplexeste Werk Dostojewskis. Man kann das einem Vermächtnis gleiche Opus Magnum als vierstündiges Destillat auf die Bretter stellen wie es Thorsten Lensing vor zehn Jahren mit einem Allstar-Ensemble befreundeter Schauspieler, darunter Sebastian Blomberg, Andre Jung, Ursina Lardi, Horst Mendroch, Ernst Stötzner und Devid Striesow, in Berlin getan hat – mit überwältigendem Erfolg im ganzen deutschsprachigen Raum.

Bochums Intendant Johan Simons, der in einem Interview mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin im Juli 2022 Frank Castorf als eines seiner Regie-Vorbilder genannt hat, kommt der Vorlage in seinem einschließlich mehrerer Pausen siebenstündigen Gesamtkunstwerk sehr nahe. Weil er eine kongeniale Bearbeitung der Bochumer Chefdramaturgin Angela Obst inszeniert, die den Mut zum Rotstift, zur Umstellung des Handlungsverlaufs und zur Reduktion des Personals offenbart, ohne den Roman als Steinbruch auszubeuten oder den von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch eines Précis zu unternehmen.

Wolfgang Menardis Environment

Beginn ist stets um 15 Uhr im Schauspielhaus, der erste Teil ist „Im Kloster: Aljoscha“ betitelt. Mit Elsie de Braw als nunmehr weiblicher Starez Sossima (samt Familienhund), einem im ganzen Land als Heiliger verehrter Kloster-Einsiedler. Hier sorgt das einerseits gewaltige, aber andererseits auch kleinteilige, simultan nutzbare Bühnen-Environment Wolfgang Menardis für Erstaunen. Der Österreicher reüssiert gerade auch als Autor und Regisseur am Wiener Volkstheater mit „Heit bin e ned munta wuan“.

Elsie de Brauw samt Familienhund und Jele Brückner in Wolfgang Menardis großartigem Bühnen-Environment.

Dann gehts durch die Katakomben des Bochumer Theaterschiffs in die Kammerspiele zum mit „In der Küche: Iwan und Smerdjakow“ betitelten zweiten Teil, der ganz von intensiven Gesprächen in kompakter Guckkasten-Atmosphäre lebt. Nach dem gemeinsamen Dinner (Borschtsch, Gemüsequiche, Panna Cotta) läuft das Finale „In der Hölle: Dmitrij“ wieder auf der großen Bühne im Schauspielhaus.

Europa als Friedhof

Sinnvoll die Streichung ganzer Kapitel wie der Gerichtsverhandlung im 12. Buch und die Zusammenlegung von Personen: So vereint Anne Rietmeijers Figur der auch vom Vater Fjodor Karamasow umworbenen jungen Gruschenka auch die „edle“ Katerina Iwanowna, die von Dmitrij nicht loskommt, von Madame Chochlakowa (Jele Brückner) aber bedrängt wird, den „gebildeten“ Iwan zu heiraten, „der sie mehr als alles auf der Welt liebt“. Und nach Europa reisen möchte, sehr weitsichtig als einen Friedhof mit „teuren Toten“ bezeichnet.

Solche „quälenden Gespräche in der Stube“ (4. Kapitel im 4. Buch) spielen im Roman freilich eine wesentlich größere Rolle als in der Dramatisierung. Ja, es gibt durch die Kürzungen Verluste, die zu Unverständnis führen. Etwa bei der Figur des Goethes „Faust“ zitierenden Stabskapitäns Snegirjow (Konstantin Bühler), dessen Kind den „frühreifen Menschenfreund“ Aljoscha in den Finger gebissen hat – warum auch immer: der Hintergrund (im 10. Buch des Romans) ist in Bochum gestrichen.

Unter dem Strich aber wäre dieser großartige Dostojewski-Abend reif fürs Berliner Theatertreffen, wenn ihn die Juroren denn gewählt hätten. Den Madame Chochlakowas Tochter Lise (Danai Chatzipetrou) im Gespräch mit dem von ihr angehimmelten Aljoscha solchermaßen auf den Punkt bringt: „Es ist furchtbar, was ich rede! Ich rede gar nicht darüber, worüber ich reden sollte. Ach, das Reden kommt von selbst.“

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Die weiteren Aufführungen

Karten unter schauspielhausbochum.de oder unter Tel. 0234 – 33 33 55 55. Die weiteren Aufführungen bis zum Saisonschluss, Beginn jeweils um 15 Uhr:

  • Donnerstag, 28. März 2024
  • Freitag, 29. März 2024
  • Samstag, 27. April 2024
  • Sonntag, 28. April 2024
  • Samstag, 25. Mai 2024
  • Sonntag, 26. Mai 2024
  • Samstag, 22. Juni 2024
  • Sonntag, 23. Juni 2024
Mai
25
Samstag
Samstag, 25. Mai 2024, um 15 Uhr Schauspielhaus Bochum , Königsallee 15 , 44789 Bochum Karten unter schauspielhausbochum.de oder unter Tel. 0234 – 33 33 55 55
Weitere Termine (3) anzeigen...
  • Sonntag, 26. Mai 2024, um 15 Uhr
  • Samstag, 22. Juni 2024, um 15 Uhr
  • Sonntag, 23. Juni 2024, um 15 Uhr
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  • Donnerstag, 28. März 2024, um 15 Uhr
  • Freitag, 29. März 2024, um 15 Uhr
  • Samstag, 27. April 2024, um 15 Uhr
  • Sonntag, 28. April 2024, um 15 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann