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Der König (Pierre Bokma) und sein rotberockter Narr (Anna Drexler gibt die Cordelia im Schottenrock).

Website des Schauspielhauses Bochum

Shakespeares „King Lear“ im Stream

„bitte lacht nicht über mich: ich bin ein alberner und altersschwacher alter mann. achtzig und aufwärts, keine stunde mehr oder weniger; und wohlmöglich auch nicht ganz bei sinnen“ (IV, 7, hier als Prolog): König Lear (akzentuierte Sprache, moderate Lautstärke: ein souveräner Pierre Bokma) ist die Verantwortung für seine Staatsgeschäfte leid. „Welche von euch liebt mich am meisten?“ fragt er seine drei Töchter und verteilt gemäß ihren Antworten Land und Macht an sie. Cordelia (deutlich aufsässiger als in der romantischen Übersetzung: Anna Drexler auch ein hinreißender Narr), die jüngste und seine liebste, verweigert sich dem Ansinnen ihres Vaters: Sie liebe ihn, wie es einer Tochter gebühre, nicht weniger und nicht mehr.

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Verletzt von solcher Nüchternheit verstößt Lear sie und verteilt sein Erbe an ihre über die als närrisch empfundene ehrliche Cordelia triumphierenden beiden älteren Schwestern Goneril (Mourad Baaiz) und Regan (Michael Lippold). Für König Lear, der sich so selbst zum ärmsten Bettler des Landes gemacht hat, beginnt die bittere Erkenntnis seines Irrtums: Kein Winkel menschlicher Leidenschaft, den er nicht durchleben, kein Quantum Irrsinn, das er nicht ausloten muss...

„The Tragedy of King Lear”, um 1605 entstanden, gilt als das abgründigste, radikalste, hoffnungsloseste und vielleicht auch gewalttätigste Stück William Shakespeares. Das über eine bemerkenswerte, wenn auch nicht gerade umfangreiche Aufführungstradition am Schauspielhaus Bochum verfügt. Unerreicht meine erste Begegnung am 22. Mai 1974 an der Königsallee (die Premiere hatte noch im Union-Kino im Bermuda-Dreieck stattgefunden): Peter Zadeks knapp fünfstündiges Grand-Guignol-Spektakel mit Ulrich Wildgruber in der Titelrolle. Und Mittelpunkt einer Klasse-Besetzung u.a. mit Hans Mahnke (Gloster), Fritz Schediwy (Edmund), Wolfgang Feige (Kent), Hermann Lause (Herzog von Albany), Hannelore Hoger (Narr) sowie den drei Töchtern Brigitte Janner (Gonoril), Magdalena Montezuma (Regan) und Rosel Zech (Cordelia).

Der hier noch kurzbehoste Edgar (Konstantin Bühler) lässt sich später nackt auf den Erdhaufen fallen.

Der narrenbekappte Wildgruber als Prinzipal einer fahrenden Schausteller-Truppe: „Weder Volkstheater noch Schmierenkomödie – die Sache hing in der Luft“ schrieb ich damals rotzfrech als Gymnasiast über diese so spektakuläre wie provokant-offenherzige Zirkusschau von Peter dem Großen. Und setzte hinzu, Zadek habe zuvor wohl zu viele Horrorstreifen konsumiert. „Le Figaro“ dagegen schwärmte 1975, die Inszenierung gastierte beim Berliner Theatertreffen in der damals noch existierenden Freien Volksbühne und anschließend beim Festival in Nancy: „Dies ist Theater. Dies ist lebendiges Theater. Dies ist höchstmögliche Inszenierung: eine Verbindung von Gebärde und dichterischem Wort.“

35 Jahre später liegt zu Beginn der dreistündigen Inszenierung Elmar Goerdens, die letzte Spielzeit seiner Intendanz war bereits mit einem erheblichen Aderlass im Ensemble verbunden, ein am Tropf hängender schwerkranker Lear („der alt wird“: Klaus Weiss) darnieder. Während seine Familie nebenan im geräumigen Wohnzimmer der Industriellenvilla in Nadelstreifen, Cocktailkleid und aufgeräumter Stimmung schon die Frage der Nachfolge des Tycoons stellt. Goneril („die nicht mehr ganz jung ist“: Veronika Nickl) führt das große Wort und singt wenig später, als ein plötzlich sehr agiler Lear die Stimmen eher hebt als die Stimmung, große Oper, Puccini, und das gar nicht einmal schlecht. Auch ihre Schwester Regan singt („eine junge Frau“: Evamaria Salcher), irgendwas mit Bananen – aber bei weitem nicht so resonanzkörperstark. Nur Cordelia („eine Junge“: Elisabeth Hart) schweigt beharrlich. Und dennoch wird ihr „Nichts“ das ganze sorgsam ausbalancierte Geflecht der Familiendynastie zum Einsturz bringen. Auch bei Goerden lassen die Wahnsinnigen die Hosen 'runter, was aber niemanden provoziert: Die Nacktheit Edgars („ein beschädigter Mensch“) etwa wird von Marco Massafra existenziell verkörpert und vom Publikum auch so empfunden. Was auch für die Auseinandersetzung mit dem intriganten Bastard Edmund des aasigen Michael Lippold gilt. Goerden hat in den Kammerspielen (!) kein Königsdrama und schon gar keine apokalyptische Menschheitstragödie inszeniert, sondern eine Familienhölle.

Auf ebenfalls drei Stunden bringt es Johann Simons‘ nach München (2013) zweite „Lear“-Inszenierung – nun in einer von ihm in Auftrag gegebenen Neuübersetzung der Wiener Dramatikerin Miroslava Svolikova. In konsequenter Kleinschreibung und befremdlicher Interpunktion, Elfriede Jelinek lässt grüßen, werden die Dualitäten des Elisabethaners wie König-Untertan, Mann-Frau oder Rechtmäßig-Unrechtmäßig in heutigem Vokabular auf den feministischen Prüfstand gestellt. Entsprechend politisch voll korrekt auch die Besetzung: die beiden intriganten Töchter Lears, eines hier alten weißen Mannes, der zwar abdankt, von der Macht als König aber doch nicht lassen kann, werden von Männern verkörpert, der Narr und der König von Frankreich (Ann Göbel) von Frauen.

Simons spielt wie gewohnt furios auf der Klaviatur der diesmal auch multimedial eingesetzten theatralischen Mittel: starke Frauen mischen mit den bewährten Mitteln des angeblich starken Geschlechts, weshalb sie von Männern verkörpert werden, den König und seine Getreuen auf, zetteln Kriege an, auf deren Schlachtfeldern nur Tote zurückbleiben, während die schwachen Männer nur sich selbst beklagen statt ihr Schicksal – rechtzeitig – selbst in die Hand zu nehmen. Nur Pierre Bokmas Lear geht mit sich selbst am härtesten ins Gericht – als es zu spät ist. Eine arg pessimistische aber wohl leider stimmige Zustandsbeschreibung unserer Zeit.

Nach der Premiere am 10. September 2020 im Schauspielhaus war „King Lear“ bis zum Corona-Lockdown stets ausverkauft. Weshalb die Simons-Inszenierung jetzt gestreamt werden kann: vorerst einmalig am Mittwoch, 9. Dezember 2020, um 19.30 Uhr. Die Teilnahme am kostenlosen Live-Stream ist auf 800 Personen begrenzt in Entsprechung der Plätze im Parkett des Schauspielhauses. Anmeldungen sind über die Website schauspielhausbochum.de möglich. Im Anschluss an die Vorstellung wird es eine Gesprächsrunde mit dem Ensemble geben, an der sich das Publikum über einen Live-Chat mit Fragen und Kommentaren beteiligen kann.

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  • Mittwoch, 9. Dezember 2020, um 19:30 Uhr
Sonntag, 6. Dezember 2020 | Autor: Pitt Herrmann