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Schöne neue Welt: Den Seifenblasen der glückliche Lenina (Lea Kallmeier) schaut der zweifelnde Bernhard (Benjamin Werner) skeptisch nach. Foto:

Starke Huxley-Adaption in Bochum

Schöne neue Welt

Der 1932 erschienene dystopische Roman „Brave New World“ von Aldous Huxley, dessen Titel sich auf William Shakespeares Drama „The Tempest“ bezieht, spielt im Jahr 2540. Die von einer Weltregierung beherrschte Gesellschaft ist in Kasten aufgeteilt, die mit griechischen Buchstaben gekennzeichnet sind. Diese „stabiles Wohlbefinden“ genannte feste Struktur auch nur in Frage zu stellen oder gar zu durchlöchern, wird mit brachialen Mitteln verhindert: Indoktrination und Konsumterror, Verabreichung der Glücksdroge Soma und Sex etwa mit der Beta-Frau Lenina Crowne ohne tiefere emotionale Bindung.

Bereits Embryonen und Föten im Mutterleib werden durch physische Einwirkungen wie dem Entzug von Sauerstoff manipuliert. Nach der Geburt sind die Kleinkinder einer dauerhaften mentalen Indoktrination so genannter Kontrolleure ausgesetzt, sodass sie keine Alternative zu ihrer Einordnung in das bestehende Kastensystem erkennen. Für Führungspositionen sind die – rein männlichen - Mitglieder der Alpha-Plus genannten Kaste vorgesehen, sie werden vom Volk wie Idole verehrt. Am unteren Ende der Skala stehen Menschen für einfachste Verrichtungen in der Epsilon-Minus betitelten Kaste.

'Fabrikationsfehlers' beim Alpha-Mann Bernard Marx

:Schöne neue Welt John (Alexander Gier) hat sich in Lenina (Lea Kallmeier) verliebt.

Besagte Lenina Crowne und der aufgrund eines „Fabrikationsfehlers“ körperlich unterentwickelte Alpha-Mann Bernard Marx (an der Rottstraße: Bernhard) verabreden sich zu einem gemeinsamen Urlaub bei den „Wilden“ genannten gesellschaftlichen Außenseitern in deren Reservat in New Mexiko. Sie sind entsetzt über die dortigen Zustände und bitten den „Weltcontroller Mustafa Mond“, zwei Personen die Ausreise in die „Zivilisation“ zu genehmigen: John Savage und seiner Mutter Linda.

John und Lenina verlieben sich, doch ihre Lebenskonzepte bleiben unvereinbar. John zieht sich in einen Leuchtturm zurück. Er wird heimlich gefilmt, wie er seine sexuellen Triebe durch Selbstgeißelung zu zügeln versucht. Nachdem das Material ins Netz gestellt worden ist, wird sein Rückzugsort zur kultigen Pilgerstätte von bisher emotionslos funktionierenden Menschen, die sich nun ekstatischen Handlungen hingeben. Dem darob entsetzten John bleibt nur noch der Selbstmord…

Von „Lucy In The Sky“ der Beatles bis Lana Del Reys „Video Games“: Der Soundtrack und die glücksverheißenden Videos (Maria Trautmann, Simon Krämer und David Goldmann) stimmen zusammen mit der chorographischen Einführung der drei Schauspieler auf einen höchst konzentrierten sechzigminütigen Abend unter den Eisenbahnbögen an der Bochumer Rottstraße ein, der in der Ursprungsbesetzung seit der Premiere am 25. Mai 2019 zum Repertoire-Dauerbrenner der angesagtesten Off-Bühne des Reviers gehört.

'Du bist was du isst'

„Stabilität, Kollektivität, Identität“ skandiert das Trio die Maximen der schönen neuen Welt im Chor. „Denke und rede weniger, handle mehr“ lautet eine der zahllosen Anweisungen, die auch die Nahrung betreffen: „Du bist was du isst“. Phrasen wie Seifenblasen, die Lenina (Lea Kallmeier) völlig verinnerlicht hat. Sie warnt den skeptischen Bernhard (Benjamin Werner), der „‘mal was Wichtiges sagen“ will, vor unbedachten Äußerungen: „Wörter können wie Röntgenstrahlen sein, wenn man sie richtig setzt.“ Bernhard findet es langweilig, den ganzen Tag in einheitlich heller Kleidung (Ausstattung: Mara Zechendorf) abzuhängen und nur glücklich zu sein.

Was bald auch für John Savage gilt, der den beiden in Blue Jeans entgegentritt. Und so schon äußerlich als Fremder erscheint – mit merkwürdig überkommenen Ansichten etwa über die Dauerhaftigkeit einer Liebesbeziehung oder der Unauflösbarkeit einer Ehe. John ist mit seiner Mutter, die ihm viel über die alte Welt erzählt und Shakespeares Werke als Lektüre gegeben hat, aus der „Äußeren Zone“ gekommen – und findet sich bald nicht mehr unter geklonten Kindern und offenbar empathielosen Erwachsenen zurecht. Hier gibt es zwar keine Kriege mehr, aber auch keine Kunst, an der man sich reiben kann. Sie ist durch „Fühlfilme“ und „Duftorgeln“ ersetzt worden.

„Mach dein Glück nicht von der Zukunft abhängig“: Emphase ohne Emotion ist Johns Sache nicht. Für ihn sind Bernhard und die promiskuitive Lenina Sklaven ohne Freiheit: „Ich sehe keine Menschen, ich sehe nur Gespenster“ sind seine letzten Worte. Die lange nachhallen in Maria Trautmanns zeitlos aktueller Adaption eines leider zeitlos aktuellen Romans. Ihre Inszenierung im intimen Theater an der Rottstraße 5 in Bochum baut völlig zurecht auf drei arrivierte Schauspieler: Alexander Gier, 1981 in Buenos Aires geborener Absolvent des Wiener Max Reinhardt Seminars, ist nicht nur von Gast-Engagements in Dortmund und Essen bekannt, sondern auch durch seine zahlreichen Film- und TV-(Serien-) Rollen.

Der Folkwang-Absolvent Benjamin Werner, 1988 im thüringischen Suhl zur Welt gekommen, hat in mehr als einem Dutzend Filmen mitgewirkt – und u.a. bei zwei Kohlenpott-Produktionen: „Disco!“ in den Flottmannhallen und „Alice im Park“ open air in Strünkede. Die zwei Jahre jüngere gebürtige Bochumerin Lea Kallmeier studierte Physical Theatre an der Folkwang Universität und ist seit Jahren sowohl beim Jungen Schauspielhaus Bochum als auch im Rottstr5 Theater zu erleben.

Karten für die nächste Vorstellung am Samstag, 11. November 2023, um 19:30 Uhr im Rottstr5-Theater am Rande des Bochumer Bermuda-Dreiecks unter rottstr.de oder Tel. 0163 – 761 50 71.

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  • Samstag, 11. November 2023, um 19:30 Uhr
Donnerstag, 9. November 2023 | Quelle: Pitt Herrmann