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Lambarene-Klinik in Mecklenburg?

Kolumne von Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey

Reisebericht – Ein Pamphlet

Ende September 1989 kam ein Patient in meine Praxis, der über die Prager Botschaft in den Westen geflohen war. Er warnte vor einer Wiedervereinigung, denn die DDR sei ein so gigantisches Entsorgungs-Problem von industriellem, baulichem, wissenschaftlichem, politischem und kulturellem Müll, dass es in hundert Jahren nicht gelingen würde, diesen zu entsorgen. Zu DDR-Zeiten war ich nie „drüben“, ich hatte dort keine Verwandten. Umso mehr interessierten mich nach der Wende die Verhältnisse dort. In vielen kleinen und größeren Ausflügen fuhr ich übers Land, vor allem in Meck-Pomm und Brandenburg. Anfang der 90er nahm ich mal meine Kinder, damals 8 und 10 Jahre alt, auf einen solchen Ausflug mit. Ich musste nach wenigen Kilometern abbrechen: Das traurige Bild der Ortschaften brachte sie zum Weinen. In der Tat erschien gegenüber dem Gammel-Grau der DDR das Arbeiter-Grau des Ruhrgebiets wie eine Edelpatina.

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Jetzt, nach einem Vierteljahrhundert deutscher Einheit habe ich mir mal einen ausgiebigen Urlaub in den neuen Bundesländern gegönnt. Auf den ersten Blick hat sich seit der Wende einiges in Richtung blühender Landschaft geändert. Leider besitze ich keine rosarote Brille. Wenn man nur ein wenig genauer hinsieht, quillt der Mehltau der DDR noch allenthalben hervor. Die Tatsache, dass mit viel Soli multiple Plattenhütten in grellbunten Farben bemalt wurden, lässt die Verschandelung der gesamten Region nur noch stärker zutage treten. Hatte man zu frühen Nach-Wendezeiten noch das Gefühl, es müsse nur mal gehörig sauber gemacht und aufgeräumt werden, dann könne es wieder halbwegs ordentlich aussehen, tritt jetzt erst das volle Ausmaß der Zerstörung von Kunst und Kultur durch das DDR-Regime zutage. Kein Schloss, kein Gutshof, kein Park, mochten sie auch noch so sehr als Juwelen der Bau- und Gartenkunst ins Auge springen, gestaltet von Schinkel, Knobelsdorf oder Lenné, um nur die wichtigsten zu nennen, entging der Plünderung und Zersiedelung durch Plattenbaracken und popeligste Schrebergarten-Siedlungen. Fährt man übers Land, muss man nur nach Plattenbau-Scheußlichkeiten neben hohen Bäumen Ausschau halten, um direkt daneben die Ruine eines Schlosses und die Reste eines einstmals lauschigen Parks zu entdecken.

Ja, auch im Westen ist vieles, was erhaltenswert gewesen wäre, zerstört worden. Ursachen waren Gewinnsucht, Gleichgültigkeit und Dummheit. Im Gegensatz dazu wurde in der DDR mit dem Vorsatz gehandelt, Kunst zu zerstören, weil man sie als Ausdruck kapitalistischer Dekadenz sah. Freilich, in den Zentren vieler Städte und größerer Ortschaften ist unglaublich viel geschehen, um die alte Pracht wieder erstehen zu lassen. Aber selbst in Städten wie Potsdam, Brandenburg/Stadt oder im Kaiserbad Heringsdorf auf Usedom zerstören monumentale Abscheulichkeiten der DDR die Atmosphäre. Bezeichnend ist bei alledem, dass mit viel Geld aus dem Westen wundervoll neu erstandene Städte wie Neuruppin noch immer zahlreichen Heiligen des Kommunismus in ihren Straßennamen huldigen.

Kommt man dann in die Außenbezirke und aufs Land, stellt sich rasch wieder eine Beklemmung ein, als wäre die DDR noch existent. Das liegt nicht nur an diesen entsetzlichen Wohnbehältnissen des Kommunismus, neben denen die Arbeitersiedlungen an der Ruhr wie Villenviertel erscheinen. Auch stellt sich dort, wo das politische und soziale Umfeld wahrnehmbar wird, Übelkeit und Unbehagen ein. Die Wahlergebnisse in Meck-Pomm und Brandenburg sind dafür ein beredtes Zeugnis. In zahlreichen Kommunen könnten die historisch Verantwortlichen für die herrschende Misere, die Nachfahren der Nazis und Kommunisten, also NPD, AfD und Linkspartei, wenn sie denn koalitionsfähig wären, mühelos die absolute Mehrheit stellen. Welche Bevölkerung ist dort auch übrig geblieben? Bis 1945 hielten sich auf dem Lande die spätfeudalistischen Strukturen der Aristokratie, die den einfachen Menschen Bildung allenfalls knapp über dem Analphabetismus zugestanden. Von 1933 bis 1945 verseuchte zudem der Nationalsozialismus die Region besonders intensiv. Nach 1945 wurden die Landjunker, die ja auch zu einem großen Teil das Bildungsbürgertum repräsentierten, verjagt. Und was geschah nach der Wende? Eine (Ost-)Berlinerin meinte, die Schlauen hätten sich in den Westen verdrückt. Geblieben seien die Alten und die Doofen. Und die seien nach der Wende das erste Mal in der Geschichte dieses Landstrichs mit so etwas Exotischem wie Demokratie konfrontiert worden.

Was hat das nun alles mit Medizin und Gesundheitspolitik zu tun? Nun, in den ländlichen Regionen Mecklenburgs und Brandenburgs herrscht eine mittlerweile dramatische medizinische Unterversorgung. Der Altersdurchschnitt der dort praktizierenden Hausärzte liegt bei 60 Jahren. Deren Praxen will keiner geschenkt. In absehbarer Zeit ist deshalb mit einer veritablen Versorgungs-Katastrophe zu rechnen. Wie begrenzt muss ein Politiker sein, zu glauben, mit ein wenig Milderung der Abrechnungsschikanen junge Ärzte in diese Einöde locken zu können. Wie dumm müssen Krankenkassen-Häuptlinge sein, wenn sie vorschlagen, Medizinstudenten nur dann zum Studium zuzulassen, wenn sie akzeptieren, einige Jahre in der Pampa abzuleisten. Noch ist der Berufswunsch Arzt kein Straftatbestand, der mit Verbannung bestraft werden kann.

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Um die medizinische Versorgung in diesen Regionen zu gewährleisten, müssen völlig neue Versorgungsstrukturen entwickelt werden. Man muss begreifen, dass die Einzelpraxis auf dem Dorf ein Modell der medizinischen Steinzeit ist. Der gesamte Apparat - hausärztlich wie fachärztlich - muss mobil und personell drastisch aufgestockt werden. Dann könnten entsprechende Zentren in den Städten, die noch am ehesten in der Lage wären, die Bedürfnisse junger Arztfamilien zu bedienen, entstehen. Fahrbare Röntgenanlagen zur Tuberkulose-Bekämpfung gab es schon vor mehr als 60 Jahren. Warum sollen heute nicht fahrbare Gastroenterologie- oder Kardiologie-Einrichtungen die entlegenen Regionen bereisen können. Warum kommt niemandem eine drastische Verbreiterung des ärztlichen Unterbaus in den Sinn. Für den allergrößten Teil der häuslichen medizinischen Versorgung wäre eine Qualifikation auf dem Niveau einer Intensiv-Schwester schon opulent. Nicht zuletzt muss auch in die Mobilität von Alten und Behinderten investiert werden. Politiker, die glauben, man könne heute noch Ärzte vom Schlage eines Albert Schweizer rekrutieren, die dann in den Savannen Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs eine Art Lambarene-Klinik errichten, sind entweder aus der Zeit gefallen oder beschränkt.