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Das Leben kann so schön sein: Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) und ihr Mann Mehmet (Nazmi Kirik).

NRW-Premiere mit zwei Berlinale-Siegern

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

Bremen, 3. Oktober 2001. Murat (Abdullah Emre Öztürk) ist nicht in seinem Zimmer. Er ist weg, ohne einen Ton zu sagen. Und ohne sein Handy, das er noch nie vergessen hat. Was Mutter Rabiye Kurnaz (Vulkan mit Ruhrpott-Slang: Meltem Kaptan) besonders merkwürdig findet. Weshalb sie mit ihrem Mann Mehmet (Nazmi Kirik) zur Moschee eilt, in der sich Murat in letzter Zeit häufiger aufgehalten hat. Doch Mohammad Khan (Teglat Kas Hana) weiß angeblich nichts. Fünf Tage später. Murat soll nach Afghanistan gereist sein, um dort gegen die USA zu kämpfen. So jedenfalls die Version des in Hannover einsitzenden Bruders von Fadime (Şafak Şengül), der – versprochenen – „Gattin“ Murats.

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Januar 2002. Murat ist in Afghanistan verhaftet und ins US-Gefangenenlager Guantanamo gebracht worden. Über das Rote Kreuz schreibt er einen Brief an seine Eltern, dass er die ganze Zeit in Pakistan war und sich keiner Verfehlung bewusst ist. Vor dem Bremer Reihenhaus der Familie Kurnaz haben sich inzwischen Kamerateams aus aller Welt in Stellung gebracht: „Hier soll ein Taliban wohnen.“ Mutter Rabiye und ihre jüngere Schwester Nuriye (Sevda Polat) verstehen die Welt nicht mehr. Erstere geht zur Polizei, dann zu städtischen Behörden.

Bernhard Docke (Alexander Scheer) und Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) nach Rabiyes Rede vor den Familien der Guantanamo-Gefangenen in Washington.

Und läuft immer wieder vor eine Wand der Bürokratie: Murat ist türkischer Staatsangehöriger, für ihn fühlen sich weder Deutschland noch die Türkei oder gar Kuba zuständig. Die amerikanische Gerichtsbarkeit gilt nicht für ein exterritoriales US-Gebiet wie Guantanamo, sondern ein vom Präsidenten Bush eingesetztes Militärtribunal. Der so junge wie besonnen-zurückhaltende Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke (Alexander Scheer) kapituliert vor dem überbordenden Temperament des Muttertiers Rabiye und nimmt sich des aussichtslosen Falles an. Er kennt und schätzt den zuständigen Bremer Staatsanwalt Marc Stocker (Charly Hübner), aber es bedarf erst der Intervention eines vom prominenten US-Schauspieler Tim Williams, Special Guest dieser deutsch-französischen Produktion, unterstützten Komitees, bis die Medien aufmerksam werden und Akteneinsicht gewährt wird.

Nach Rabiye Kurnaz‘ flammendem Appell vor besagtem Komitee in einer Washingtoner Kirche kommt endlich Bewegung in das Verfahren, das im April 2004 vom Supreme Court übernommen wird. Es dauert bis August 2006, bis Murat in Ramstein landet – und mit seinem Äußeren, schulterlange Haare und Vollbart, von seinen Angehörigen erst gar nicht erkannt wird. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass die rot-grüne Koalition das Verfahren aus politischen Gründen über viele Jahre verschleppt hat: Schon 2003 waren Beamte des Bundesnachrichtendienstes in Guantanamo und fanden keine Beweise gegen Murat. Andreas Dresen lässt am Ende dieser knapp zweistündigen emotionalen Achterbahnfahrt keinen Zweifel, dass er das Taktieren des Vizekanzlers und Außenministers Joschka Fischer für einen bis heute unaufgeklärten Skandal hält.

„Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, ein Film über Recht und Willkür, über Menschen, die über sich hinauswachsen, ist ein Ereignis. Und lebt entscheidend von der überwältigenden Präsenz und dem geerdeten Alltagswitz einer Leinwand-Debütantin: die Musical-Schauspielerin („West Side Story“) und Standup-Comedienne Meltem Kaptan („NightWash“, „Ladies Night“). Andreas Dresen: „Obwohl sie selbst noch keine Kinder hat, möchte man eine wie sie zur Mutter haben. Eine Frau, die die Welt umarmt und nach vorne stürmt. Eine Löwin!“

Ursprünglich sollte Murats kafkaeske Situation im Mittelpunkt der siebten gemeinsamen Arbeit von Andreas Dresen (Regie) und Laila Stieler (Drehbuch) stehen. Das Projekt eines klassischen Gefängnisdramas wurde nach der persönlichen Begegnung der beiden Filmemacher mit Rabiye Kurnaz und Bernhard Docke rasch beerdigt zugunsten eines Perspektivwechsels auf die beiden so ungleichen, zu Freunden gewordenen Kämpfernaturen. Andreas Dresen: „Bei Rabiye und Bernhard ergänzen sich Herz und Verstand auf eine geradezu wunderbare Weise. Sie setzen unterschiedliche Prämissen, der eine ist kontrolliert, die andere impulsgesteuert. Es ist unfassbar schön, sie miteinander zu erleben, zu begreifen, wie diese zwei so verschiedenen Menschen über Jahre hinweg aneinander gewachsen sind, sich gerieben, Vertrauen gefasst und im freundschaftlichen Sinne gebraucht haben.“

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Nach der Uraufführung am 12. Februar 2022 im Wettbewerb der 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin, bei dem gleich zwei Silberne Bären heraussprangen für Meltem Kaplan (Beste Hauptrolle) und Laila Stieler (Bestes Drehbuch), feiert der zweistündige Film am Dienstag, 12. April 2022, um 20 Uhr in der Essener Lichtburg NRW-Premiere mit beiden „Bären“-Gewinnerinnen, bevor er am 28. April 2022 bundesweit in den Kinos startet.

| Autor: Pitt Herrmann