
Der neue Wim Wenders-Spielfilm
Perfect Days in Tokio
Hirayama (Kōji Yakusho) reinigt öffentliche Toiletten in Tokio – mit Hingabe. Nicht irgendwelche, sondern gut ein Dutzend höchst individuell gestalteter Anlagen zumeist in Parks oder neben Kinderspielplätzen, die von bekannten Architekten entworfen worden. Der gut zweistündige Spielfilm beginnt mit den allmorgendlichen Verrichtungen eines Mannes, der offenbar früher ein gutbürgerliches Leben geführt hat: Aufstehen, das Bettzeug zusammenlegen, zahllose Topfblumen sorgsam mit Wasser besprühen, Zähne putzen, einen Dosenkaffee aus dem Automaten im Hof vor seiner bescheidenen, aber von einigem Wohlstand zeugenden Wohnung ziehen.
Mit seinem Daihatsu-Transporter durchquert er auf gewaltig dimensionierten mehrstöckigen Autobahnen die Millionenmetropole, um zu seinen verstreut liegenden Arbeitsplätzen zu gelangen. Zu „House oft he Rising Sun“ der „Animals“ nimmt er den ersten Schluck Kaffee aus der Dose: Hirayama vergisst nie, eine seiner alten Musikkassetten aus den 1960er bis 1980er Jahren einzulegen. Sie bestimmen auch den Sound des Films: Lou Reeds „Perfect Days“, nach dem der Film betitelt ist, aber auch Songs von Velvet Underground, Otis Redding, Patti Smith, The Kinks und anderen bis hin zu japanischer Musik aus derselben Zeit.
Wenn er Glück hat, kommt sein fauler, stets missgelaunter junger Mitarbeiter Takashi (Tokio Emoto) wie immer viel zu spät hinzu. Der lässt sich von der immer wiederkehrenden, monotonen Arbeit leicht ablenken, nicht zuletzt durch seine extravagante Freundin Aya (Aoi Yamada), die mit Hirayama den Oldie-Musikgeschmack teilt. Mittags macht Hirayama Essenspause in einem Park unter Bäumen, deren filigranes Astwerk er mit seiner analogen Pocket-Kamera im Gegenlicht aufnimmt. Nach der Arbeit zieht er seine „The Tokyo Toilet“-Jacke aus, steigt aufs Fahrrad, besucht ein Badehaus, isst eine Kleinigkeit in einem Bahnhofs-Schnellrestaurant oder besucht die Bar der immer noch stimmgewaltigen Mama (Sayuri Ishikawa).
Poetische, tief berührende Betrachtung über die Schönheit der alltäglichen Welt
Hirayama ist mit sich und seiner Welt im Umkreis des nachts mehrfarbig leuchtenden Fernsehturms „Skytree“ zufrieden, verfolgt das Leben eines Obdachlosen (Min Tanaka), führt ein entlaufenes Kind seiner undankbaren Mutter zu und lässt sich die gute Laune nicht durch abschätzige Blicke einer sich vornehm gebenden jungen Frau bei der Mittagspause verderben. Als eines Abends plötzlich seine von daheim fortgelaufene junge Nichte Niko (Arisa Nakano) auf der Treppe vor der Wohnung hockt, nimmt er sie ganz selbstverständlich auf. Niko begleitet ihn bei der Arbeit und wäre gern länger bei ihrem lebensklugen, belesenen Onkel geblieben, wird aber von dessen Schwester Keiko (Yumi Asō) in einer Nobelkarosse mit Chauffeur abgeholt. Für einen kurzen, emotionalen Moment wird der Toilettenmann mit seiner völlig anderen Vergangenheit konfrontiert. Doch bereits am anderen Morgen blickt Hirayama mit einem freundlichen Lächeln in den Himmel, bevor er sein Tagwerk beginnt…

„Perfect Days“ ist eine poetische, tief berührende Betrachtung über die Schönheit der alltäglichen Welt und die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Toilettenputzen ist aus der Sichtweise des Protagonisten keine minderwertige Arbeit, sondern als Dienstleistung – und schließlich sogar eine spirituelle Haltung als Geste der Gleichheit und Bescheidenheit. In seinen von der Fotografin und Regisseursgattin Donata Wenders visualisierten Traumsequenzen offenbart Hirayama seine Faszination für die in Japan „Komorebi“ genannten Schattenspiele von Bäumen und Pflanzen im Sonnenlicht, die ihm den Weg zu seinem bescheidenen Leben gewiesen haben.
'Orte sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten'
Anfang 2022 erhielt Wim Wenders einen Brief aus Tokio mit dem Vorschlag, eine Fotoserie oder einen dokumentarischen Kurzfilm über das Phänomen der öffentlichen Designer-Toilettenanlagen in der japanischen Hauptstadt zu machen. Der Regisseur im DCM-Presseheft: „Mir gefielen diese architektonischen Meisterwerke in Miniatur, die eher Tempeln glichen als Toiletten, und der künstlerische Aspekt, der das Projekt umgab.“ Und: „Ich finde, ‚Orte‘ sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten. Zum Beispiel mit einer Hauptfigur, die etwas von dem japanischen Sinn für das Gemeinwohl verkörpern würde. Ich hatte am ersten Tag schon die Männer kennengelernt, die sich um die Hygiene der Toiletten kümmerten. So einen könnte ich mir gut vorstellen, einer, der sich verantwortlich dafür fühlen würde, dass diese Orte schön, einladend und sauber blieben...“
In dem Schriftsteller und kreativen Kopf Takuma Takasaki fand Wenders „einen großartigen Sparring-Partner“ als Co-Autor. Und mit Koji Yakusho einen Schauspieler, den er mehrfach gesehen („Shall We Dance“, „Babel“) gesehen und bewundert hatte. Gedreht wurde der 123-Minüter mit Kameramann Franz Lustig an 16 Oktober-Tagen des Jahres 2022 vor Ort in Tokio. „Perfect Days“ ist am 26. Mai 2023 in Cannes uraufgeführt worden, wo Kōji Yakusho den Preis als besten Darsteller erhielt. Bei der Deutschen Erstaufführung am 19. September 2023 im Cinestar Leipzig im Rahmen der 23. Filmkunstmesse gabs den Gilde-Preis der Filmkunsttheater als bester Film international. Zum Kinostart ist „Perfect Days“ im Casablanca Bochum, in den Essener Kinos Rio und Eulenspiegel sowie im Cinema Düsseldorf zu sehen.