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Der Anwalt Caspar Leinen (Tobias Schwieger, r.) trifft seine Jugendliebe Johanna Meyer (Franziska Ferrari) wieder.

„Der Fall Collini“ kommt ins KuZ

Neugierde ist der Weg zur Wahrheit

Ein älterer Herr, der sich als Journalist der führenden italienischen Tageszeitung Corriere della Sera ausgibt, betritt das Berliner Luxushotel Adlon. Er ist für ein Interview mit dem angesehenen deutschen Industriellen Hans Meyer (Mike Kühne) angemeldet. Als sich beide im Zimmer des 85-Jährigen, der sich seit 1945 Jean-Baptiste Meyer nennt, gegenüberstehen, fallen mehrere Schüsse. Es war geradezu eine Hinrichtung, wie der Pathologe, Professor Wagenstett, später rekonstruieren wird, nach welcher der 67-jährige Täter in aller Ruhe in die Hotellobby zurückkehrt und seine Verhaftung erwartet.

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Sein Name ist Fabrizio Collini (Guido Thurk). Der gebürtige Italiener lebt seit 35 Jahren in Deutschland und hat bis zu seinem Renteneintritt als Werkzeugmacher bei Daimler gearbeitet. Ein stets unauffälliger, aber von seinen Kollegen als zuverlässig und liebenswürdig geschätzter Mann, der sich bisher nichts hat zuschulden kommen lassen. Und der nun 600 Kilometer von Böblingen nach Berlin gereist ist, um einen Mord zu begehen, dessen Ausführung auf persönliche Rache als Motiv schließen lässt.

Die Vorsitzende Richterin (Vesna Buljevic) hat den Pathologen Wagenstett (Mike Kühne) vorgeladen, im Hintergrund der Angeklagte Fabrizio Collini (Guido Thurk).

Nachdem der Ermittlungsrichter Köhler (Mario Thomanek) vom Amtsgericht Tiergarten den jungen Caspar Leinen (Tobias Schwieger) als Pflichtverteidiger bestallt hat, ist der bei seinem ersten großen Fall bemüht, die Motive der rätselhaften Tat herauszufinden. Doch Collini, der den Mord sofort gestanden hat, schweigt beharrlich zu den Hintergründen der Tat – über Wochen, ja Monate. Währenddessen dringen nicht nur Oberstaatsanwalt Reimers (Andreas Kunz) und die Vorsitzende Richterin (Vesna Buljevic) auf einen raschen Abschluss des Verfahrens, sondern auch Leinens ehemaliger Strafrechtsprofessor Richard Mattinger (Burghard Braun), der die Familie Meyer als Nebenkläger vertritt.

Wie sich zu Caspar Leinens Entsetzen herausstellt, war das Opfer, Eigentümer der Meyerschen Maschinenfabrik, sein Ziehvater, der ihn in Schule und Studium gefördert hat. Er ist geradezu wie ein Sohn der Familie aufgenommen und an der Seite der inzwischen in London lebenden Johanna Meyer (Franziska Ferrari) aufgewachsen. Die Jugendgefährtin drängt ihn, das Mandat zurückzugeben, was bei einer Pflichtverteidigung jedoch ebenso wenig möglich ist wie bei einer Berufung ins Schöffenamt. Wie ihm die Koryphäe Mattinger klar macht, hätten persönliche Befindlichkeiten generell im Gerichtssaal nichts zu suchen. Sein Rat an den jungen Kollegen: „Neugierde ist der Weg zur Wahrheit“.

Als weder die polizeilichen Ermittlungen noch die Befragungen seines Mandanten Licht ins Dunkel bringen, stößt Caspar Leinen auf einen Hinweis, der alles auf den Kopf stellt und ihn ins Zentrum eines deutschen Justizskandals führt: Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine seltene Pistole, die auf dem Schwarzmarkt so gut wie nie angeboten wird. Wie kam Collini in ihren Besitz? Caspar Leinen erinnert sich, eine solche Wehrmachtswaffe als Elfjähriger bei Meyer gesehen zu haben. Er wird im Bundesarchiv Ludwigsburg fündig…

Ferdinand von Schirach, der sich als Strafverteidiger mit aufsehenerregenden Prozessen viel Respekt erarbeitete, bevor er sich erst als Mittvierziger literarisch betätigte, hat in seinem nach den Erzählungen „Verbrechen“ und „Schuld“ ersten Roman „Der Fall Collini“ 2011 einen in Vergessenheit geratenen Skandal der westdeutschen Nachkriegs-Justiz, das „Dreher-Gesetz“, in eine spannende Krimihandlung gegossen. Nach dem „Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten“ vom 24. Mai 1968 verjähren NS-Verbrechen bereits nach 15 Jahren. Es ist nach Eduard Dreher benannt worden: Als Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck hat er während des Zweiten Weltkriegs sogar bei Bagatelldelikten wie Lebensmitteldiebstahl die Todesstrafe gefordert. Nach dem Krieg machte er ungebrochen Karriere als Beamter, wurde Autor des meistverbreiteten Kommentars zum Strafgesetzbuch und 1968 Leiter der Strafrechtsabteilung im Bundesjustizministerium. Durch das von ihm wesentlich auf den Weg gebrachte Gesetz kamen Tausende von Verbrechern aus dem Dritten Reich ungestraft davon, so auch Meyer, den Collini bereits in den 1960er Jahren angezeigt hatte aufgrund einer Vergeltungsaktion der Wehrmacht 1943 im besetzten Italien.

Nach der unter anderem mit Franco Nero, Elyas M’Barek und Manfred Zapatka prominent besetzten Verfilmung 2019 von Marco Kreuzpaintner hat Karin Eppler nun eine Bühnenfassung geschrieben und am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel auch inszeniert. Selbst wer den Roman oder den Leinwand-Adaption kennt, wird sich der besonderen Live-Atmosphäre dieses gut einhundertminütigen Abends nicht entziehen können.

Vor der Guckkasten-Bühne des Ausstatters Philipp Kiefer, Gefängniszelle und Kabine des Angeklagten im Gerichtssaal, nur zwei Tische mit Stühlen für die raschen Szenenwechsel mit einem Minimum an Requisiten. Guido Thurk ist ständig präsent, alle Situationen, häufig unterfüttert mit Nachrichten aus dem Off oder nachgestellter Geräuschkulisse, laufen über ihn, auch wenn die Person Collini nicht direkt beteiligt ist. Karin Epplers rundum beeindruckende, auf Lichtregie und exaktes Timing zwischen künstlichen Pausen bauende Inszenierung im Stil eines Dokudramas bindet das Publikum unmittelbar emotional ein.

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Die nächsten Aufführungen: Am Samstag, 30. Oktober 2021, um 20 Uhr im WLT-Studio am Europaplatz Castrop-Rauxel, Karten unter Tel 02305 – 97 80 20, sowie am Dienstag, 30. November 2021, um 19:30 Uhr im Herner Kulturzentrum, Karten unter Tel 02323 – 16 23 45.

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  • Samstag, 30. Oktober 2021, um 20 Uhr
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  • Dienstag, 30. November 2021, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann