halloherne.de

lokal, aktuell, online.
Der Hofdame Marie Festetics (Katharina Lorenz) gehört das Vertrauen der Kaiserin (Vicky Krieps).

Feministischer Blick auf „Sisi“

Neu im Kino: Corsage

Die Hofburg in Wien im Dezember 1877. Elisabeth, die Kaiserin von Österreich-Ungarn (Vicky Krieps), taucht in der Badewanne unter um zu testen, wie lange sie die Luft anhalten kann. Womit sie ihre Hofdamen Marie Festetics (Katharina Lorenz), Ida Ferenczy (Jeanne Werner) und Fanny Feifalik (Alma Hasun) in hellste Aufregung versetzt. Die schnüren ihr anschließend das Korsett so eng, dass einem schon vom Zuschauen die Luft wegbleibt: Sisi lässt sich täglich die Taille messen und hält bei der kleinsten Gewichtzunahme strenge Orangendiät. Aufzeichnungen belegen, dass sie zeitlebens ihre „Wespentaille” von 46 Zentimetern gehalten und die 50 Kilogramm Körpergewicht nie überschritten hat.

Anzeige: Spielwahnsinn 2024

„Deine Aufgabe ist es lediglich, zu repräsentieren – dafür habe ich dich ausgewählt, dafür bist du da“: Kaiser Franz Joseph (Florian Teichtmeister) hat seiner Gattin eine Rolle zugeschrieben, die Elisabeth immer weniger bereit ist, auszufüllen. Weshalb sie sich Repräsentationspflichten gern durch vorgespielte Ohnmachten entzieht, selbst am Heiligabend, wo ihr 40. Geburtstag mit einem festlichen Dinner begangen wird. Ein probates Mittel, das sie wenig später ihrem hier recht kindsköpfigen Cousin Ludwig II von Bayern (Manuel Rubey) empfiehlt, mit dem die Kreutzersche Sisi am Starnberger See mehr als nur flirtet.

Elisabeth (Vicky Krieps) lässt sich auf ein Verhältnis mit ihrem Cousin Ludwig II von Bayern (Manuel Rubey) ein.

Vor dem Hintergrund, dass eine Frau von Vierzig auch im späten 19. Jahrhundert als ausgemustertes, da für weitere Nachkommenschaft nicht mehr infrage kommendes Wesen betrachtet wird, gibt sich Elisabeth nicht nur beim regelmäßigen Training in der Spanischen Hofreitschule als Wildfang, sondern auch gegenüber ihrem attraktiven Reitlehrer Bay Middleton (Colin Morgan), einem berühmten Jagdreiter. Schon kurz nach Neujahr hält es sie nicht mehr in der Hofburg: Sie reist mit ihrem Sohn Rudolf (Aaron Friesz), der sich nur ungern zur Militärausbildung nach Prag abkommandieren lässt, zu ihrer Schwester Marie (Lilly Marie Tschörtner) aufs Land.

„Es gehört sich einfach nicht“: Rudolf, aber auch bereits seine kleine Schwester Valerie (Rosa Hajjaj) zeigen sich nicht amüsiert über die sich häufenden Verstöße ihrer Mutter gegen die Etikette des kakanischen Hofes. Doch Sisi weiß sich zu helfen: Sie tritt in der Öffentlichkeit nur noch mit Gesichtsschleier auf und lässt sich immer häufiger von einem Double vertreten, im wahren Leben von ihrer Friseurin Franziska „Fanny” Feifalik, hier im Film von ihrer Vertrauten, der Hofdame Marie Festetics, die schon Tage zuvor fasten muss, um wenigstens einigermaßen an Elisabeths Statur heranzukommen.

Sisi reist viel, was ihr neue Perspektiven eröffnet. Auch politische wie die von ihr vorangetriebene Aussöhnung mit Budapest – was ihr kaiserliche Gatte alles andere als wohlwollend zur Kenntnis nimmt: „Ich habe dich beim Thema Ungarn nach deiner Meinung gefragt, man verachtet mich bis heute dafür“. Im Gegenteil macht er Elisabeth für die wachsenden Spannungen im habsburgischen Vielvölkerstaat verantwortlich. Während die historische Sisi am 10. September 1898 im Alter von 60 Jahren gestorben ist, nachdem ihr der Anarchist Luigi Lucheni bei einem Spaziergang am See in Genf mit einer Feile in die Brust gestochen hatte, nutzt die Kreutzersche Elisabeth einen Urlaub in Ancona für den finalen Sprung in eine andere Freiheit…

„Ich hatte nie Interesse, ein ordentliches, braves Biopic zu machen. Aber natürlich haben die Fakten – dass Elisabeth eben ab einem gewissen Alter ihr Gesicht nicht mehr gezeigt hat – erst diese Geschichte, diesen Plot in mir entstehen lassen. Es ist doch wahnsinnig spannend, dass diese Frau quasi vor aller Augen verschwunden ist“, so die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer im Alamode-Presseheft. Der über 113 Minuten bannende, weil die kitschige „Sissi“-Figur der verniedlichenden 1950er-Jahre-Trilogie Ernst Marischkas mit Romy Schneider konterkarierende Film, der am 20. Mai 2022 die Sektion „Un certain regard“ eröffnete und dort mit dem Preis für die beste Performance ausgezeichnet wurde, konzentriert sich auf die zweite Lebenshälfte einer widerspenstig-feministischen Kaiserin, die mit ihren modernen Ansichten und ihren vielseitigen Interessen – etwa am neu aufkommenden Medium Film – viel eher ins 20. Jahrhundert wenn nicht gar in unsere Gegenwart gepasst hätte.

Vicky Krieps verkörpert eine authentische Frau, die sich mit sehr gegenwärtigen Problemen wie Essstörungen herumschlägt und Sinnkrisen zwischen Selbstverwirklichung und Mutterschaft mit Affären zu begegnen sucht. Am Ende tanzt sie selbstvergessen in absichtsvoll den Untergang der Habsburger Monarchie vorwegnehmenden schäbigen Interieurs mit einem Menjou-Bärtchen.

Anzeige: Glasfaser in Crange

Regisseurin Marie Kreutzer im Alamode-Presseheft: „Dieses Leben mit einem übergroßen Bild von sich, dem man immer gerecht werden muss, weil es das einzige ist, über das man Anerkennung und Liebe bekommt – das fand ich extrem interessant und auch eine zeitlose Thematik.“ Zum Kinostart ist „Corsage“ seit dem 21. Juli 2022 in den Essener Kinos Eulenspiegel und Rio, in der Dortmunder Schauburg sowie im Düsseldorfer Bambi zu sehen.

| Autor: Pitt Herrmann