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Das Theaterstück

WLT gastiert mit Thriller-Adaption

'Liebes Kind' im Kulturzentrum

„Er macht den Tag und die Nacht. Wie Gott“ erzählt Lena im Prolog des 2019 bei dtv erschienenen 420-seitigen Romans „Liebes Kind“, der die 38-jährige Münchner TV-Redaktionsleiterin Romy Hausmann schlagartig bekannt machte. Die heute mit ihrer Familie in einem abgeschiedenen Waldhaus in der Nähe von Stuttgart lebt, wo sie sich ganz auf ihre Tätigkeit als Autorin und Bloggerin konzentrieren kann. Ihr mit dem Crime Cologne Award 2019 ausgezeichnetes Thriller-Debüt wird demnächst von Isabel Kleefeld und Julian Pörksen als sechsteilige Serie, die 2023 bei Netflix laufen soll, verfilmt.

„Ich betrachte meinen Mann aus dem Augenwinkel, während ich neben ihm auf dem abgewetzten Sofa sitze. Unter seiner Umarmung pulsieren meine Verletzungen, als hätte jede einzelne von ihnen einen eigenen Herzschlag. Ich versuche mir einzureden, ich hätte das Schlimmste bereits überstanden, nur ahne ich, dass wir bald zusammen ins Bett gehen werden. Ich höre die Kinder wie durch Watte plappern, während ich darüber nachdenke, wie ich ihren Vater töten werde“: Der voluminöse Roman bezieht seine geradezu atemberaubende Spannung nicht nur aus dem haarsträubenden, an die Fälle von Natascha Kampusch und Josef Fritzl angelehnten Plot.

14 Jahre in einer fensterlosen Hütte

Der bis zuletzt unbekannte und hier naturgemäß nicht gespoilerte Täter hält die bei der Entführung 23-jährige Münchner Lehramts-Studentin Lena Beck vierzehn Jahre in einer fensterlosen Hütte im Wald gefangen. Das Opfer muss dem Psychopathen zugleich Geliebte, Gattin und Mutter seiner in Gefangenschaft geborenen Kinder Hannah und Jonathan sein. Für die das Gefängnis ein Zuhause ist und die horrible Situation der Normalzustand.

Sondern auch dadurch, dass die schwer erträgliche Handlung aus der ständig wechselnden Perspektive der Protagonisten geschildert wird bei permanenten Sprüngen auf der Zeitachse: Bei Lena teilweise auch in der Er-Form, vor allem aber in der Ich-Form auch von ihrer am Ende 13-jährigen Tochter Hannah, ihrem Vater Matthias Beck und der Regensburger Werbekauffrau Jasmin Grass, einem weiteren Opfer.

Hohe Konzentration notwendig

Dem Leser wird eine hohe Konzentration abverlangt, zumal auch die eingestreuten, scheinbar authentischen Zeitungsartikel keine Chronologie der Ereignisse darstellen und sich Hannahs Schilderungen einer Alltagsnormalität mit Besuchen bei den Großeltern und Reisen ins Ausland erst spät als Traumvisionen herausstellen. Nach 14 Jahren, genau nach 4842 Tagen, scheint die Ungewissheit bei Lenas Eltern Karin und Matthias endlich vorbei zu sein: Der Münchner Polizeihauptkommissar Gerd Brühling berichtet, dass sich ihre Tochter habe befreien können, nach einem Autounfall aber in einer Klinik in Cham liege. Alles Weitere werde sein Kollege vor Ort, Kommissar Frank Giesner, übernehmen…

Jasmin (Thyra Uhde, links) und ihre vermeintliche Tochter Hannah (Simone Schuster), rechts Tagblatt-Chefreporter Lars Rogner (Mario Thomanek).

Den Krimi-Spezialisten vom Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel um Chefdramaturg Christian Scholze ist ein weiterer Coup gelungen, indem sie sich noch vor der Netflix-Miniserie die Rechte zur Uraufführung einer Dramatisierung sichern konnten. Die Scholze zusammen mit dem Regisseur und Bühnenbildner Thomas Tiberius Meikl verfasst hat, Premiere war am Sonntag (9.10.2022) in der Stadthalle Castrop-Rauxel.

Ein Paravent links und ein transparentes Zelt rechts, für die Projektion der überwiegend kunstvollen, beim Wassermelonen-Loop aber auch nervenden Videos Alec Barths ganz in Weiß gehalten, bilden eine abstrakte Bühne. Die am Ende nach knapp neunzig Minuten einschließlich überflüssiger Pause – Bertolt Brecht lässt grüßen - in ihre Einzelteile zerlegt wird.

Nur Vornamen, keine Funktionen

Entindividualisiert auch die grauen Einheitskostüme von Rabea Stadthaus: Thomas Tiberius Meikl will damit die Allgemeingültigkeit der Geschichte und ihrer Figuren ausdrücken. Was freilich zu heilloser Verwirrung eines Publikums führt, das den Roman zuvor nicht gelesen hat. Zumal einem das Programmheft hier auch nicht weiterhilft, ja im Gegenteil noch mehr Stirnrunzeln hervorruft: alle Figuren tragen nur Vornamen, keine Funktionen. Und eine Lena taucht auf dem Besetzungszettel gar nicht auf, dafür ein von Mike Kühne verkörperter Krissi.

Wo das WLT doch gerade eine Publikumsbefragung in den Abnehmerstätten durchführt: Wie wäre es mit einer Umfrage vor Vorstellungsbeginn, welche Besucher wüssten, wer sich hinter Jasmin (Thyra Uhde), Hannah (Simone Schuster), Matthias (Burghard Braun) und Karin (Gabriele Brüning) verbirgt. Von Gerd als Polizeikommissar Gerd Brüning (Ko-Regisseur Maximilian von Ulardt), Lars als Chefreporter Lars Rogner (Mario Thomanek) vom Bayerischen Tagblatt aus München oder Mark als Lenas „Ex“ Mark Sutthoff (bei der Premiere Marvin Moers, sonst Tobias Schwieger) ganz abgesehen.

„Liebes Kind“, am Westfälischen Landestheater eher ein nachdenklich machendes, für manche sicherlich auch aufrüttelndes Stück über Gewalt und Kontrolle aus der weiblichen Opferperspektive als ein spannender Thriller, wird am Freitag, 28. Oktober 2022, um 20 Uhr noch einmal im WLT-Studio am Europaplatz in Castrop-Rauxel gezeigt, bevor es am Dienstag, 20. Dezember 2022, um 19.30 Uhr im Herner Kulturzentrum zu erleben ist.

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  • Freitag, 28. Oktober 2022, um 20 Uhr
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  • Dienstag, 20. Dezember 2022, um 19:30 Uhr
Freitag, 14. Oktober 2022 | Autor: Pitt Herrmann