
Christoph Schlingensief fehlt schmerzlich
In das Schweigen hineinschreien
Zum zehnten Todestag Christoph Schlingensiefs sollte ursprünglich am 2. April 2020 ein gut zweistündiger Dokumentarfilm in die Kinos kommen, der seinem Fanpublikum ebenso wie den Jüngeren, die seine Arbeiten nur aus Erzählungen kennen, eindrücklich vor Augen hält, welch‘ große Leerstelle sein früher Krebstod im Alter von nur 49 Jahren bis heute hinterlässt. Coronabedingt ist der Bundesstart auf den 20. August 2020 verschoben worden.
Schlingensief, am 24. Oktober 1960 in Oberhausen geboren, ist mit seinen experimentellen und zugleich kritischen Kinofilmen und Fernsehformaten, mit seinen aufsehenerregenden Theaterarbeiten in Berlin, Wien und Zürich, mit seinen künstlerischen und politischen Aktionen zwischen Biennale Venedig und Ruhrtriennale Bochum zusammen mit Rainer Werner Fassbinder, dem ab 1. Oktober 2020 das nicht minder bemerkenswerte Biopic „Enfant terrible“ gewidmet ist, das größte künstlerische Multitalent der deutschen Nachkriegszeit.
Bettina Böhlers am 21. Februar 2020 im Panorama-Wettbewerb der 70. Berlinale im Kino International uraufgeführte Dokumentation „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ ist ein Montage-Film mit Ausschnitten aus seinen Filmen, Theateraufzeichnungen, Performances wie dem Pfahlsitzwettbewerb 2003 in Venedig und politischen Aktionen wie der „Chance 2000“ im Bundestagswahlkampf 1998.
Der Erzähler ist Christoph Schlingensief selbst, auch bei den wohl erstmals öffentlich gezeigten Super-Acht-Filmen aus seiner Kindheit, die sein Vater, ein Oberhausener Apotheker, gedreht hat. Aber nicht der Erklärer seiner an Thomas Bernhards austriakischem Furor heranreichende Hassliebe zu seinem Heimatland. Auch die Interviews mit Schlingensief von Alexander Kluge, Gregor Gysi und seinem langjährigen Produzenten Frieder Schlaich sowie die sehr persönlichen Statements internationaler Stars wie Tilda Swinton und Udo Kier dienen mehr einer – sehr lebendigen, durchaus auch humorvollen und ironischen – Innenansicht dieses singulär produktiven und innovativen Künstlers.
Der noch mit dem „Horror in meiner Brust“ vom Krankenlager aus sein afrikanisches Operndorf-Projekt in Burkina Faso auf den Weg brachte. Wer etwa in Venedig dabei war, wie dieser jungenhafte, spitzbübisch lächelnde Spiritus rector auf halbhohen Baumstämmen in den Giardini trommelte oder in Frank Castorfs Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zusammen mit Irm Hermann und Josef Bierbichler als seine Eltern im „Atta Atta“-Spektakel die Freiheit der Kunst ausrief, wird in den Statements etwa von Margit Carstensen, Dietrich Kuhlbrodt und Helge Schneider wieder an solche Großereignisse erinnert.
An denen, etwa im Hitler-Film, auch der kürzlich verstorbene Volker Spengler beteiligt gewesen ist. Alle anderen können immerhin erahnen, welche Persönlichkeit hinter diesen so unterschiedlichen Formaten steckte im nicht breiter vorstellbaren Spektrum zwischen der Wiedervereinigungs-Splatterkomödie „Das deutsche Kettensägenmassaker“ auf der Leinwand und Richard Wagners letztem musikdramatischen Werk, der vom Komponisten selbst Bühnenweihfestspiel genannten Oper „Parsifal“ in Bayreuth.

Der „Schlingensief-Film mit Schlingensief-Mitteln“, so die Regiedebütantin Bettina Böhler, die zu den führenden Filmeditorinnen Deutschlands gehört, nachdem sie mehr als achtzig Spiel-, Dokumentar- und Fernsehfilme für alle großen deutschen Regisseure montiert hat, ist der gebürtigen Freiburgerin des Jahrgangs 1960 eine Herzensangelegenheit. Hat die zweifache Gewinnerin des Deutschen Kritikerpreises für Schnitt und heutige dffb-Dozentin mit Christoph Schlingensief in den 1990er Jahren doch an zwei seiner Filme mitgewirkt, „Terror 2000“ und „Die 120 Tage von Bottrop“: „Ich habe Christoph als klugen, empathischen und auch verletzlichen Menschen erlebt, mit einem untrüglichen Gefühl dafür, den Finger in die Wunde zu legen.“
„Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ ist ab 20. August 2020 im Kino Endstation in Bochum-Langendreer und im Essener Rio zu sehen, ab 23. August 2020 auch im Filmstudio Glückauf in Essen.
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