
Frappierend anders und erschreckend aktuell
George Orwells '1984' am Theater Kohlenpott
„Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke“ behauptet der „Große Bruder“ im zwischen 1946 und 1948 noch ganz im Bann der Hitler-Diktatur geschriebenen und im Jahr darauf bei Secker & Warburg in London erschienenen dystopischen Roman „Nineteen Eighty-Four“ George Orwells. Dazu läuft, in der geradezu frappierend andersartigen und dabei erschreckend aktuellen Adaption von Henner Kallmeyer und Regisseur Frank Hörner am Herner Theater Kohlenpott, frisch-fröhlicher 1980er Sound zur Aerobic-Gymnastik in heute wieder stylischen Retro-Dresses.
„Big Brother is watching you“: Just zur Premiere des mit Jasha Eliah Deppe und Gareth Charles großartig besetzten Zwei-Personen-Stücks Ende März 2025 in den Flottmannhallen kam die Meldung, dass in den drei dem Trump-Kosmos zuzurechnenden US-Bundesstaaten Florida, Iowa und Idaho Orwells „1984“ binnen fünf Tagen aus Schulbüchereien entfernt werden muss, wenn auch nur ein einziger Einwohner des jeweiligen Landkreises das verlangt.
Der 'Golf von Amerika'
Dabei haben die Trumpisten die inzwischen US-weit grassierende Reinigung von „schädlichen Begriffen“ doch unmittelbar vom britischen Autor Eric Arthur Blair, Orwells Geburtsname, übernommen. Wie die „Anpassung“ historischer Gegebenheiten an die imperialistische Ideologie der Gegenwart („Golf von Amerika“).

„Lang lebe der Große Bruder!“: Die suggestiven Bilder und Sequenzen im leider gar nicht mehr so utopischen, KI-unterstützten Setting des Herner Videografen Patrick Paschma sind konstitutiver Bestandteil einer nach rund 80 Minuten frenetisch gefeierten Produktion für alle ab 14 Jahren. In der Ausstattung von Sandra Linde (Bühne) und Jana Januschewski-Moze (Kostüme) geht es nicht mehr so sehr um die im 300-Seiten-Roman geschilderte Aufteilung der Welt in drei Machtblöcke, die sich in wechselnden Koalitionen bekriegen.
Zwei mal zwei ist vier - oder nicht?
Sondern vielmehr um eine Liebesgeschichte in Zeiten, in denen jeder jedem misstraut: Winston Smith hat sich im totalitären Überwachungs-Staat eingerichtet, indem er für die vom unsichtbaren Großen Bruder geführte elitäre „Innere Partei“ im „Ministerium für Wahrheit“ tätig ist. Für ihn gilt immer noch die mathematische Formel „Zwei mal zwei ist vier“, aber er führt zur eigenen Selbstvergewisserung ein Video-Tagebuch - und spricht in einer fiktionsbrechenden pirandellesken Szene wie ein Avatar mit dem eigenen Video-Bild.
Aerobic-Time: Julia ist bei der allmorgendlichen Körper-Ertüchtigung wie einst Jane Fonda unterwegs. Bis zur allgemeinen abendlichen Bettruhe wird sie keine Minute nur sie selbst sein können. Nach „Gedankenverbrechen“ zeigen „Kinderhelden“ ihre Eltern an und fiebern begeistert Hinrichtungen mit Eventcharakter entgegen. Winston und Julia, auf den ein gewisser O’Brien mehr als nur ein Auge geworfen hat, treffen sich heimlich am See mitten im Wald, wo eine analoge Kommunikation ohne Mikrophone und Kameras noch möglich ist. Ansonsten vermitteln sie den Eindruck, aus Überzeugung mit der Menge mitzuschwimmen (statt wie im Praschma-Video individuell im gelben Tretboot über den See zu gleiten).
Höchste Gefahr
Da Winston das durchaus egoistisch motivierte doppelte Spiel des Fanatikers O’Brien nicht durchschaut, der suggeriert, zur „Bruderschaft“ des obersten Staatsfeindes Emmanuel Goldstein, der den Staat stürzen will, zu gehören, bringt er nicht nur sich in höchste Gefahr. Die Liebenden sind längst zu Feinden der staatlichen Autorität geworden, weil sie um die Trost spendende Hoffnung wissen.
Doch Winston, der den Ort, an dem es keine Dunkelheit gibt, fälschlicherweise für das Ministerium der Liebe hält, muss am in der Bühnenadaption nicht ganz so bitteren Ende die neue mathematische Formel in der endlos erscheinenden Gegenwart akzeptieren: „Zwei und zwei ergibt Fünf.“
Gareth Charles mit überragender Bühnenpräsenz
Der 28-jährige Kölner Gareth Charles ist nicht zuletzt seiner überragenden Bühnenpräsenz wegen seit vielen Jahren ein gern gesehener Gast beim Theater Kohlenpott („Peer Gynt“, „Ich bin Liebe“, „Alice im Wunderland“). Der auch auf Leinwand und Bildschirm gefragte Schauspieler und (Synchron-) Sprecher leitet zusammen mit Manuel Moser und dem Herner Sefa Küskü die freie Kölner Gruppe „C.t.201“.
Bei ihrem Kohlenpott-Debüt überzeugte die 27-jährige Jasha Eliah Deppe kaum weniger. Die in Witten geborene und in Bochum aufgewachsene frischgebackene Absolventin der renommierten Berliner Ernst Busch-Hochschule hat schon auf den Brettern des Schauspielhauses Bochum, des Maxim-Gorki-Theaters und des Berliner Ensembles gestanden und spielt aktuell auch am Staatstheater Darmstadt.
Weitere Aufführungen gibt es von Dienstag bis Donnerstag, 7. bis 9. Oktober 2025, jeweils 10 Uhr. Karten kosten 14 Euro (zehn Euro ermäßigt, Schulgruppen sechs Euro pro Person). Erhältlich per Mail unter .

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- Mittwoch, 8. Oktober 2025, um 10 Uhr
- Donnerstag, 9. Oktober 2025, um 10 Uhr