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Die Flüchtlingskinder Oskar (Leopold Pallua) und Lilli (Rosa Zant).

Neu im Kino

Ein bisschen bleiben wir noch

„Wie schaffen wir es, neu ankommenden Menschen einen Nährboden für Integration und Inklusion zu bieten? Will die Mehrheitsgesellschaft das überhaupt noch oder wird das Feld politischen Parteien überlassen, die an der Macht sind oder an Macht kommen wollen und soziale Härtefälle für ihre Zwecke ausnutzen? Wer bleibt am Ende des Tages Sieger im Kampf zwischen rechtem Populismus und humanistischer Weltanschauung?“ Diesen Fragen geht Arash T. Riahi in seinem bemerkenswerten Film „Ein bisschen bleiben wir noch“ nach, dessen Start durch die Corona-Pandemie immer wieder verschoben werden musste.

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Die tschetschenischen Flüchtlingskinder Oskar (Leopold Pallua) und Lilli (Rosa Zant) leben seit sechs Jahren in Österreich, aber sie haben immer noch kein dauerhaftes Bleiberecht. Als die Familie abgeschoben werden soll, schließt sich ihre psychisch labile Mutter (Ines Miro) im Bad ein und unternimmt einen Selbstmordversuch. Die verschreckten Kinder flüchten sich aufs Dach – und landen bei der Fürsorge. Der versuchte Suizid ihrer in eine Klinik eingewiesenen Mutter bewirkt zwar einen Aufschub der Abschiebung, aber Oskar und Lilli werden nicht nur von ihr, sondern auch voneinander getrennt.

Sie werden vorerst bei verschiedenen Pflegeeltern untergebracht. Oskar kommt zum Lehrer-Ehepaar Susanne (Alexandra Maria Nutz) und Josef (Markus Zett), das sich selbst auf die Schulter klopft: „Schön, dass wir das machen, ist ein gutes Gefühl.“ Zur Familie gehört neben einem eigenen kleinen Kind auch die an Parkinson leidende Oma Erika (Christine Ostermayer).

Oskar mit seiner neuen Familie.

„Wir sagen nicht behindert, wir sagen Menschen mit besonderen Bedürfnissen“: Lilli kommt zur politisch voll korrekten Wiener Öko-Fundamentalistin Ruth (Simone Fuith), einer überzeugten Vegetarierin, und ihrem Freund, dem Fotografen Georg (Rainer Wöss). Sie sieht beim Blick aus dem Küchenfenster durch Gitterstäbe wie im Gefängnis, findet in der Schule in ihrer Banknachbarin Betti (Anna Fenderl) aber schnell eine Freundin. Welche sich später allerdings als Lügnerin und Betrügerin erweist. Lilli mag Ruth, obwohl sie das Fleisch auf dem Speisezettel vermisst.

Und natürlich ihren Bruder. Die Geschwister haben vergeblich versucht, zusammenzubleiben. Nun halten sie heimlich per Smartphone Kontakt zueinander, obwohl Traiskirchen, wo Oskars neue „Familie“ lebt, eine Zugstunde von Wien entfernt liegt. Doch mit Hilfe von Oma Erika gelingt sogar ein persönliches Treffen auf dem Wiener Westbahnhof. Dabei schlägt Oskar vor, die „Eltern“ bewusst vor den Kopf zu stoßen, damit sie wieder zusammenkommen können – und sei es vorübergehend in einem Heim. Irgendwann wird ihre Mutter schließlich wieder aus der Psychiatrie entlassen werden.

Die hockt wie geistesabwesend im Rollstuhl, reißt sich aber zusammen, als es darum geht, ihre Kinder zur Adoption freizugeben: Sie will als Mutter nur das Beste für Lilli und Oskar. Ruth freilich hat gar nicht vor, Lilli zu adoptieren, will vielmehr mit Georg eigenen Nachwuchs: „Es ist immer besser bei der eigenen Mama zu sein.“ Als es ihrer Mutter besser geht, schmieden die Kinder mit Erikas Hinterlassenschaft, die Oma hat es nach mehrfachen vergeblichen Versuchen geschafft, ihrem qualvollen Leben ein Ende zu setzen, Reisepläne. Und mieten sich für eine Nacht im Grandhotel ein – bis die Polizei dem Luxusdasein ein plötzliches Ende setzt…

In der bittersüßen Odyssee „Ein bisschen bleiben wir noch“ des österreichischen Regisseurs Arash T. Riahi („Ein Augenblick Freiheit“) werden die Ängste der Kinder vor einer Abschiebung durch (Alp-) Traumsequenzen Lillis und Kompensationshandlungen Oskars offenbar. Riahi hat bewusst einen immer wieder leicht märchenhaften Ton gewählt, um sich vom klassischen Betroffenheitskino und seinem dokumentarisch-realistischen Stil abzugrenzen. Er schildert eine emotionale Achterbahnfahrt aus der Perspektive der Flüchtlingskinder, erzählt aber von uns allen und wie wir am Vorsatz, es mit den anderen und mit uns selbst gut zu meinen, fortwährend scheitern. 1972 im Iran geboren kam Riahi als Zehnjähriger mit seinen Eltern in die Alpenrepublik und hat sich in der Figur des Oskar wiedergefunden. In der Filmvorlage, dem 1994 erschienenen Roman „Oskar und Lilli“ von Monika Helfer, verlieren die beiden jungen Protagonisten ihr Zuhause aufgrund der psychischen Erkrankung ihrer Mutter, nicht jedoch durch Flucht oder Vertreibung.

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„Ein bisschen bleiben wir noch“ feierte seine Uraufführung am 23. Januar 2020 auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken und gewann dort den Publikumspreis. Auf dem Filmfestival Kitzbühel 2020 wurde Riahis 102-minütiger Film mit dem Joseph-Vilsmaier-Preis als Bester Spielfilm ausgezeichnet. Der am 3. Dezember 2020 geplante deutsche Kinostart musste coronabedingt immer wieder verschoben werden. Mit der Folge, dass dieser besondere Film jetzt nur in ganz wenigen Arthouse-Kinos wie dem Sweetsixteen in der Dortmunder Nordstadt gezeigt wird.

| Autor: Pitt Herrmann