
Neu im Kino
Die Welt wird eine andere sein
Mitte der 1990er Jahre. Die türkischstämmige Medizinstudentin Asli (Canan Kir) hat zusammen mit einer befreundeten Kommilitonin viel Spaß auf einer Kirmes. Und wundert sich über einen Mitstudenten, der partout nicht mit auf den „Twister“ will. Hat er etwa Angst? Abends auf der Wohnheim-Fete sieht sie ihn wieder und beim Wahrheits-Spiel kommt heraus, dass er Saeed (Roger Azar) heißt, aus dem Libanon stammt und, um seinen Eltern zu gefallen, Zahnmedizin studiert. Eigentlich will er Pilot werden.
Beide treffen sich nun häufiger – und kommen sich bald näher. Asli ist fasziniert von seinem Selbstbewusstsein, seiner Ausstrahlung. Als ihre verwitwete Mutter Zeynep (Özay Fecht) mit Aslis kleiner Schwester Ebru (quirlig: Zeynep Ada Kienast) aus dem Ruhrgebiet zu Besuch kommt, ist diese strikt gegen den Freund ihrer älteren Tochter: ein arabischer Schwiegersohn ist in der türkischen Gesellschaft schlicht undenkbar. So heiraten Asli und Saeed heimlich und sie versprechen feierlich einander, für immer zusammenzubleiben und die Geheimnisse des anderen zu wahren.
Ein Jahr ist vergangen. Saeed hat das Medizinstudium an den Nagel gehängt, mit seinem Freund Fares (Nicolas Chaoui), einem libanesischen Palästinenser, das heruntergekommene Restaurant „La Corniche“ für große, mehrtägige Hochzeitsfeiern der arabischen Community wiederbelebt. Und in Hamburg ein Flugzeugbau-Studium aufgenommen. Asli ist inzwischen auf seine Bitten hin aus der Studenten-WG in eine eigene kleine Wohnung gezogen, wo sie sich bald der Dauer-Beobachtung einer reinen Männer-Gesellschaft ausgesetzt sieht.
Im dritten Jahr wird der Ton zwischen den beiden rauer. Was einerseits politischen Meinungsverschiedenheiten geschuldet ist, etwa über die Existenzberechtigung des Staates Israel, welche Saeed verneint. Andererseits schält er sich immer mehr als der Bestimmer heraus, Asli soll nicht nur das Rauchen, sondern den westlichen Lebensstil überhaupt aufgeben. Sie bekommt mit, dass er sich nachts häufiger aus der Wohnung zu einer Telefonzelle stiehlt. Warum nutzt er nicht sein Handy? Und dann will Saeed plötzlich in die Heimat fliegen. Bevor ihr Misstrauen zu übermächtig wird, sucht sie den Kontakt zu seiner Familie. Und wird in Beirut von seiner Mutter Suleima (Darina al Joundi) in deren eleganter Villa herzlich empfangen. Doch wo ist Saeed? Als dieser sich brieflich aus Jemen meldet, gerät die ganze vielköpfige Familie in hellste Aufregung.

Das letzte Jahr des 20. Jahrhunderts ist angebrochen. Asli arbeitet im Labor der Universität zur großen Zufriedenheit ihres Professors, als Saeed plötzlich in der Tür steht. Er wird offenbar verfolgt, versteckt sich in ihrer Wohnung. Sein Körper ist fürchterlich vernarbt, er muss Höllenqualen erlitten haben. Schweigt sich aber aus, gibt nur bekannt, dass er sein Ingenieur-Studium aufgibt, um sich in einer Flugschule in Miami/Florida zum Piloten ausbilden lassen zu wollen. Asli ist über seinen Fundamentalismus verzweifelt, versucht vergeblich, ihn eifersüchtig zu machen.
Das fünfte sollte das letzte Jahr für beide sein. Dabei beginnt es vielversprechend: Als Asli nach Florida fliegt, wird sie von Saeed im einem Mustang Cabrio empfangen: Sollte er endlich in der westlichen Welt angekommen sein? Die beiden Ausbilder in Miami sind hochzufrieden mit ihm, bereiten Saeed auf den Pilotenschein für Passagierflugzeuge vor. Und Asli, die inzwischen erfolgreich ein Zweitstudium absolviert hat, könnte nach Boston gehen und in einer Krebs-Forschungsgruppe arbeiten. Als sie sich, zurück in Deutschland, einer Operation unterziehen muss, flimmert am 11. September 2001 der Terror-Anschlag auf die Twin Towers in New York über die Bildschirme. Asli schwant Böses und kontaktiert die Polizei…
„Inspiriert von einer wahren Geschichte“ heißt es im Vorspann zu Anne Zohra Berracheds drittem Spielfilm „Die Welt wird eine andere sein“, der im Panorama-Wettbewerb der 71. Berlinale uraufgeführt wurde und am 12. August 2021 bundesweit startet. In „Copilot“, so der treffende internationale Titel, erzählt sie zusammen mit der Drehbuchautorin Stefanie Misrahi eine Geschichte in fünf Kapiteln, die auch von der Biographie des libanesischen Terroristen Ziad Jarrah gespeist wird, der in Deutschland studierte, bevor er das in Pennsylvania abgestürzte Flugzeug steuerte.
Binnen zweier unter die Haut gehender Stunden werden wir mit Aslis Augen Zeugen einer auch sprachlich ungewöhnlichen Liebe, wobei absichtsvoll englische und arabische Dialoge weder synchronisiert noch untertitelt wurden: die Fremdheit unterschiedlicher Kulturen wird so auch akustisch erfahrbar. Apropos Sprache: im Mittelpunkt steht zwar die 1987 in Lünen/Westfalen geborene Deutschtürkin Canan Kir (Deutscher Ensemble-Schauspielpreis für „Ein Geschenk der Götter“). Maßgeblich beteiligt am Erfolg dieses über weite Strecken improvisierten Films aber ist der 1992 in Beira geborene Libanese Roger Azar, der sich vor Beginn der Dreharbeiten einer einjährigen Tortur am Berliner Goethe-Institut unterzog: Er lernte die deutsche Sprache so perfekt, dass spontane Reaktionen auf Ideen der deutsch-algerischen Regisseurin über ihr Skript hinaus möglich wurden. „Die Welt wird eine andere sein“ läuft in unserer Region u.a. im Metropolis Bochum und in der Essener Galerie Cinema.