
Til Schweiger - Tragikomödie auch in der Filmwelt
Die Rettung der uns bekannten Welt
Paul (Emilio Sakraya) ist auf den ersten Blick ein ganz normaler Gymnasiast kurz vor dem Abitur. Doch schon das Intro der neuen, mit 136 Minuten schon arg langen Tragikomödie Til Schweigers, „Die Rettung der uns bekannten Welt“, lässt uns den Atem stocken – und seinen besten Freund und Sitznachbarn auf der Münchner Theresien-Schule, Saheed (Skandar Amini) entsetzt wegblicken: Paul klettert wie ein Lebensmüder, angestachelt durch eine Clique, die alles auf dem Handy filmt, halsbrecherisch auf alten Industrieanlagen herum (gedreht wurde im Duisburger Nordsternpark).

Schnitt. Am Geburtstag der vor vier Jahren an Herzstillstand gestorbenen Mutter Meryam (Meryam Moutaoukkil), der Pauls Vater Hardy (Til Schweiger) in Tagträumen leibhaftig zu begegnen scheint, versammelt der Achtzehnjährige die Familie am Grab, zu der auch noch seine beiden wesentlich jüngeren Geschwister Charlie (Greta Kasalo) und Luca (Otto Emil Koch) gehören. Dazu hat er eine Live-Band bestellt und allerhand weiteren Zinnober auf dem Friedhof organisiert, der einen Polizeieinsatz hervorruft und seinen Vater wegen Störung der Totenruhe eine Stange Geld kostet.
Was der renommierte Architekt, bester Mann im Stall des Büros Stetter (Herbert Knaup), finanziell verkraftet, aber sein Date mit dem Minister platzen lässt, dem Auftraggeber der von Hardy entworfenen Kunsthalle. Stetter ist nicht amüsiert und Kollegin Anni (Bettina Lamprecht) muss ihm einmal mehr aus der Bredouille helfen. Auf der einen Seite kümmert sich Paul liebevoll um seine Geschwister, schlüpft, um den vielbeschäftigten alleinerziehenden Vater zu entlasten, sogar in die Rolle einer Ersatzmutter. Der die Kleinen morgens in die Grundschule bringt und sie mittags bekocht. Auf der anderen Seite reagiert Paul immer wieder höchst aggressiv, das kann seinen Mathelehrer ebenso treffen wie Vater Hardy, nachdem dessen Ältester das Haus mit einem halben Dutzend Hundewelpen geflutet hat.
Als Paul ‘mal wieder einen Kick braucht, ignoriert er den verhängten Hausarrest für eine weitere Kletterpartie. Währenddessen unternehmen die kleinen Geschwister chemische Experimente und als Papa Hardy nach Hause zurückkehrt, löscht die Feuerwehr den Küchenbrand. Paul ist untröstlich, unternimmt einen Selbstmordversuch und ist – endlich – reif für den schulpsychologischen Dienst. Der gibt Paul in die Hände der Psychologin Katharina (Emily Cox), die weit draußen auf dem Land eine Klinik für junge Leute mit den unterschiedlichsten Ticks und Störungen unterhält.
Paul, so ihre Diagnose, leidet an einer bipolaren Störung, sodass er den radikalen Stimmungsumschwüngen in seinem Gehirn zwischen manischer Euphorie und tiefer Depression hilflos ausgeliefert ist. Im Institut lernt Paul Gleichaltrige kennen, die wie sein Zimmernachbar Tien (Sebastian Schneider) unter einer Zwangsstörung, hier der Phobie vor Bakterien, leiden oder am Asperger-Autismus wie Caro (Charlotte Krause). Bald freundet er sich mit Toni (Tijan Marei) an, die von ihrem Onkel „angefasst“ wurde und damit leben muss, dass ihre Mutter ihr die Schuld für den Missbrauch gibt. Die Folge: Tourette-Syndrom und kleine mimische Ticks.
Paul steht vor der Entscheidung, entweder weiterhin vor seiner Krankheit davonzulaufen oder Menschen zu vertrauen, die ihm ihre Hilfe anbieten. Doch erst einmal unternimmt er mit Toni einen Ausreißversuch, der sie quer durch Deutschland bis ans Meer führt…
In „Die Rettung der uns bekannten Welt“, uraufgeführt am 2. November 2021 in der Essener Lichtburg und am 11. November 2021 auch in der Filmwelt Herne gestartet, hat Til Schweiger den Kabarettisten Lo Malinke, mit dem er schon beim US-Remake „Head Full Of Honey“ seines Alzheimer-Dramas „Honig im Kopf“ sowie bei „Klassentreffen 1.0“ und „Die Hochzeit“ zusammengearbeitet hat, als Ko-Autor ins Boot geholt. Das ist im Vergleich zu früheren Filmen ein Fortschritt: neben grottigen Altherrenwitz-Klogeschichten und sonstigen peinlichen Anbiederungen als actiongewohnte Mainstream-Publikum gibt es eine herrlich schlagfertige Blind-Date-Szene mit der unglaublich präsenten Thelma Buabeng: „Wir lügen alle im Internet.“
Til Schweiger scheut sich in seinem in weiten Teilen durchaus berührenden Plädoyer für Kinder-Erziehung statt Kinder-Verwahrung nicht vor einem moralischen Fazit: Was uns wirklich trägt ist der Mut, unsere Schwächen zu zeigen und uns von denen helfen zu lassen, die zu uns stehen, besser noch: die uns lieben. Ob allein mit Liebe die uns bekannte Welt zu retten ist, erscheint dann freilich doch allzu naiv.