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Eindrucksvolles Solo: Maximilian von Ulardt.

Atemlos durch die Nacht

Der Sandmann am WLT

„Voll Neugierde, Näheres von diesem Sandmann und seiner Beziehung auf uns Kinder zu erfahren, frug ich endlich die alte Frau, die meine jüngste Schwester wartete: was denn das für ein Mann sei, der Sandmann“ heißt es im gleichnamigen „Schauermärchen“ E.T.A. Hoffmanns, dem Ende November 1815 binnen kürzester Zeit entstandenen Meisterstück seiner Spukdichtungen. Und weiter: „Ei, Thanelchen“, erwiderte diese, „weißt du das noch nicht? Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett' gehen wollen und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“

Besagter Sandmann hat den zehnjährigen Nathanael trotz guten Zuredens seiner Mutter nicht einschlafen lassen, seit er Zeuge eines für seinen Vater tödlich verlaufenen alchemistischen Experiments des satanischen Advokaten Coppelius im Arbeitszimmer seines Elternhauses geworden ist. Inzwischen Student in Italien bringt ihn die Begegnung mit dem harmlosen Wetterglashändler Coppola aus der Fassung, ist Nathanael doch überzeugt, in ihm den bösartigen Coppelius zu erkennen. Auf einem Ball im Haus seines Physikprofessors Spalanzani lernt er dessen liebreizende Tochter Olimpia kennen…

In der ersten Regiearbeit der bisherigen WLT-Assistentin Jolanda Uhlig übernimmt Maximilian von Ulardt sämtliche Rollen einschließlich des schwäbelnden Kommilitonen Siegmund und des holden Engelsbildes von Clara, Nathanaels Verlobter. Der auch bei den Musikproduktionen begeisternde Allrounder, einst Ensemblemitglied im Kinder- und Jugendtheater und nun seit vielen Jahren ständiger Gast im Abendtheater, kommt in seinem rund sechzigminütigen Solo mit wenigen, aber markanten Requisiten aus. Die einschließlich der shöne Oke von der Regie-Hospitantin Laura Frölich stammen.

Unterstützt von einer Erzählerstimme aus dem Off schlüpft ein ungemein virtuoser Maximilian von Ulardt, der in einem zeitgenössischen Kostüm des 19. Jahrhunderts mit grüner Weste und dreiviertellanger Hose steckt, zudem in die Rolle des an seinem Schreibtisch sitzenden Autors Hoffmann. Er muss sein ganzes gestisches und mimisches Repertoire abrufen, um diese im Grunde monströse Gruselgeschichte dem Publikum noch dazu mitten im Parkett näherzubringen. Dem er sich auch von der Bühne aus immer wieder direkt zuwendet, ein antiillusionistischer Verfremdungseffekt wie eine ganze Reihe mit einfachsten Mitteln erzeugter technischer Petitessen.

Von Weine nicht, wenn der Regen fällt über Stand by Me bis hin zu Atemlos durch die Nacht: Auch der Soundtrack peppt diesen derzeit viel gespielten, weil zum Abiturkanon gehörenden Klassiker ordentlich auf. Die Theaterpädagogin Ria Zittel mutiert von der Anspielpartnerin des Protagonisten mit einem Brief Claras zum Postillon d’amour, bevor Maximilian von Ulardt zum gruseligen Pas de deux mit einer Schaufensterpuppe ansetzt: der Schauwert dieser kurzweiligen Inszenierung ist enorm und tröstet das der Erzählung unkundige Publikum über so manche Leerstelle der eigenen Wahrnehmung hinweg. Die Deutsch-Abiturienten sollen halt ‘was zum Knabbern haben…

Beeinflusst durch Schillers Geisterseher und Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft hat sich E.T.A. Hoffmann schon sehr früh mit dem ambivalenten Verhältnis von Mensch und Maschine auseinandergesetzt, als von Androiden noch nicht die Rede war. Und auch nicht von Traum-Sharing wie in Christopher Nolans Science-Fiction-Thriller Inception mit Leonardo DiCaprio, neben der düsteren Romantik der literarischen Vorlage eine Inspirationsquelle der Regisseurin Jolanda Uhlig für ihre an der Recklinghäuser Käthe-Kollwitz-Gesamtschule erstaufgeführten Bühnenfassung für Zuschauer ab 15 Jahren.

Mit seinen Fantasiestücken in Callots Manier inspirierte Ernst Theodor Amadeus Hoffmann übrigens auch andere Künstler, so zum Beispiel Jacques Offenbach zu seiner phantastischen Oper Hoffmanns Erzählungen, Robert Wilson zu seinem Musical Der Sandmann und Peter I. Tschaikowski zu Der Nussknacker nach Motiven aus Nussknacker und Mausekönig, derzeit auf dem Spielplan des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier in einer Ballettproduktion für die ganze Familie.

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  • Donnerstag, 10. Januar 2019, um 20 Uhr
Freitag, 4. Januar 2019 | Autor: Pitt Herrmann