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Drei Mal beige und einmal schwarzes Kostüm: (v.li.) Inwoong Ryu, Holly Brennan, Yu-Chi Chen und Marie-Louise Hertog in „Crossed in Gold“ am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier.

Tanz den Mammon

'Crossed in Gold' am MiR

Die Erde hat ihren Mythos eingebüßt. Der industrielle Rohstoffabbau, gerade im Ruhrgebiet, nahm ihr den göttlichen Funken. Die Formung durch den Menschen, die Eingriffe, die auf mühsam begrünten Halden wie große Narben langsam heilen, prägen den modernen Blick auf unsere Lebensgrundlage stärker, als es ein Mythos könnte. Aber wir sind auf die Erde angewiesen. Vielleicht können wir einen neuen Umgang mit dem Reich, das im antiken Griechenland Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit der Erde, des Getreides und des Ackerbaus, zugeschrieben wurde, lernen.

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So jedenfalls die Hoffnung des für die jüngste Produktion der MiR Dance Company zuständigen Dramaturgen Steven Markusfeld. Unter der Klammer des Untertitels „Unterwelt und Wachstum“ sollte am Samstag (18.3.2023) der Doppel-Tanzabend „Demetra“ im Kleinen Haus des MiR mit zwei Uraufführungen Premiere feiern: „Crossed in Gold“ der jungen israelischen Choreographin Anat Oz und „Fields of Asphodel“ von Frank Fannar Petersen und Javier Rodriguez Cobos. Aufgrund von Erkrankungen im Ensemble der MiR Dance Company konnte nur die zweite Choreographie aufgeführt werden – in einer einstündigen Director’s Cut-Version (halloherne berichtete).

Fünfköpfiges Ensemble

Die Uraufführung „Crossed in Gold“ von Anat Oz konnte jetzt aber nachgeholt werden (halloherne berichtete). Mit einem am Premierenabend umjubelten fünfköpfigen Ensemble aus Marie-Louise Hertog, Eleonora Robson / Holly Brennan, Inwoong Ryu, Yu-Chi Chen, und Dex van ter Meij / Dakari Romero Tuurala, Letztere zusammen mit Eleonora Robson Gast von der Königlichen Schwedischen Ballettschule.

Die auch für Bühne und Kostüme verantwortliche Anat Oz, die der Produktionspreis des 35. Internationalen Wettbewerbs für Choreografie Hannover ans MiR führte, beschäftigt sich in ihrer Kreation mit dem Begriff des Wachstums. Im ersten Abschnitt ihres insgesamt nur gut dreißigminütigen Beitrages thematisiert sie die kapitalistische Perspektive, die nur das „immer mehr“ kennt.

In eleganten Kostümen, die im Scheinwerferlicht dem RGB-Farbcode LightGoldenrod nahekommen, steht ein Paar an der Rückwand in einer Nische, während ein Tänzer rechts am Rand mit gestreckten Beinen am Boden sitzt. Zu den beiden im Hintergrund gesellt sich ein Dritter, als der Einzelne rechterhand plötzlich wilde Verrenkungen vollführt als sei er von einer Tarantel gestochen.

Grazile Gestalt im hautengen schwarzen Trikot

Zu den vier Tänzern, die sich bald in wechselnden Formationen auf der Bühne exponieren, gesellt sich eine grazile, in ein hautenges schwarzes Trikot gehüllte Gestalt (Holly Brennan), die sich wie ein Schatten an die anderen hängt. Immer wieder abgewiesen, gar abgeworfen, klammert sich die Figur wie eine Klette an die Körper der anderen.

„Crossed in Gold“ ist im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier noch viermal zu sehen.

„Smile“ lässt sich ein Tänzer vernehmen und bleckt dabei die Zähne. Dann kehrt einer von den elegant Kostümierten bis auf eine Feinripp-Unterhose nackt auf die Bühne zurück: Dex van ter Meij. Es wird englisch gesprochen, nur Satzfetzen dringen durch: offenbar meldet sich Mutter Natur aus dem Off. Ein Satz immerhin auf Deutsch: „Mein Spiegelbild im Fenster ist ein einziges Durcheinander.“ Geht’s vielleicht auch um den grassierenden Selbstoptimierungswahn beim Versuch keineswegs nur junger Leute, sich vom Durchschnitt wenigstens äußerlich abzuheben? „Money, Money“ ruft das zunehmend ekstatische fünfköpfige Ensemble.

Doch führt die Vermehrung von Geld und Besitz zu irgendeinem Ziel? Als es Geldscheine vom Bühnenhimmel regnet, der im Kleinen Haus am Kennedyplatz nicht wirklich Schnürboden genannt werden kann, lösen an den artenreichen Regenwald erinnernde Naturgeräusche den nur schwer erträglichen, kaum als Musik zu bezeichnenden metallischen Sound Ari Jacobs ab – endlich!

Archaisches Abtasten im tropischen Urwald-Bühnennebel

Archaisches Abtasten des Gegenübers im tropischen Urwald-Bühnennebel. Dann läuten Glocken. Ist das Paradies nicht mehr weit? Bald baden alle Fünf im Geldsegen, die Banknoten kleben an ihren Körpern. Zu eher dissonanten Tönen aus dem Off ein so dynamischer wie harmonischer Pas de quatre, als der fünfte Tänzer unter grünem Licht in der rückwärtigen Türöffnung erscheint. Folgt auch er dem Ruf des Geldes? Am Ende blicken alle Fünf zum Himmel…

Der Vorhang zu und alle Fragen offen: In „Crossed in Gold“ soll die Tür in der Rückwand der Bühne eine Möglichkeit, einen Übergang markieren. Und Anat Oz im zweiten Abschnitt ihrer Choreographie eine abstrakte Utopie zeigen, die nicht Antwort sein will, aber denkbares Gegenbild. Mein Fazit nach dreißig Minuten in der Ballettsprache: Un petit rien (zu dt.: eine Kleinigkeit).

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Tanz den Mammon - noch viermal zu sehen im Rahmen des Doppelabends „Demetra“ am Samstag, 15. April 2023, um 19.30 Uhr, am Montag, 29. Mai 2023, um 18 Uhr, am Sonntag, 11. Juni 2023, um 18 Uhr sowie am Samstag, 24. Juni 2023, um 19.30 Uhr. Karten unter musiktheater-im-revier.de oder unter Tel. 0209 – 4097 200.

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  • Samstag, 15. April 2023, um 19:30 Uhr
  • Montag, 29. Mai 2023, um 18 Uhr
  • Sonntag, 11. Juni 2023, um 18 Uhr
  • Samstag, 24. Juni 2023, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann