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„Außer Atem“ beginnt an der Rottstraße mit einem Knalleffekt: Michel Poiccard (Henry Morales) erschießt einen Polizisten. Foto: Jonas Domrath

Godard-Klassiker in Bochum

Außer Atem

„Je t'aime moi non plus“ hauchen Jane Birkin und Serge Gainsbourg aus den Lautsprechern, wenig später erklingt „Parole Parole“ von Gianni Ferrio, Leo Chiosso und Giancarlo Del Re aus dem Off, bei uns eher bekannt in der französischen Version von Dalida und Alain Delon als in der italienischen Originalinterpretation von Mina und Alberto Lupo. Der wundervolle Soundtrack gibt die Richtung nicht nur der Inszenierung Alexander Ritters im Rottstr5-Theater am Rande des Bochumer Bermuda-Dreiecks vor.

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Sondern auch die seiner Adaption des Filmklassikers „À bout de souffle“ von Jean-Luc Godard, der 1960 unter dem deutschen Titel „Außer Atem“ auf der 10. Berlinale Premiere feierte und dem in Paris geborenen Schweizer Regisseur den Silbernen Bären einbrachte: Der künstlerische Leiter der angesagtesten Off-Bühne des Reviers ist weniger an der seinerzeit beiderseits des Rheins als Skandal empfundenen Kriminalgeschichte interessiert als an der tragisch endenden Liebesbeziehung zwischen dem Kleinkriminellen Michel Poiccard (Henry Morales) und der angehenden Journalistin Patricia Franchini (Lise Wolle).

Glanz in den Augen

Patricia (Lise Wolle) und Michel (Henry Morales) ist nur ein kurzes Glück zu zweit beschieden.

Beide hatten sich zufällig während eines Urlaubsaufenthaltes der jungen Amerikanerin an der

Côte d’Azur kennengelernt. Michel, mit einem gestohlenen Luxuswagen unterwegs auf dem Weg nach Paris, hat, als er in eine Polizeikontrolle geriet, eher versehentlich einen Flic erschossen. Auf der Flucht entdeckt er Patricia, die auf den Champs Élysées die „New York Herald Tribune“ verkauft, und kriecht sogleich bei ihr unter. Verzweifelt versucht Michel, bei einem gewissen Antonio Berrutti Außenstände einzutreiben. Das Geld soll ihm – und der scheinbar schwangeren Patricia – zur Flucht nach Italien verhelfen.

„Wenn du Angst hast, oder erstaunt bist, oder beides zugleich, hast du einen merkwürdigen Glanz in deinen Augen“: Der sich als unwiderstehlich empfindende, in der Attitüde des „tough guy“ gerierende Michel gibt alles, vom hemdsärmelig-sonnenbebrillten Macho bis hin zum eloquenten Schmeichler. Doch die heftig Umworbene ist vor allem eine Unschlüssige: „Ich möchte gern wissen, was in dir vorgeht, Michel. Ich seh‘ dich immer wieder an und suche. Und ich finde nichts, ich finde nicht, was es ist.“ Am tragischen Ende verrät Patricia, von Polizei-Inspektor Vital in die Enge getrieben, ihren Liebhaber: „I don’t know if I’m unhappy because I’m not free, or if I’m not free because I’m unhappy.”

Vom Film noir zur Nouvelle vague

Jean-Luc Godards Debütfilm, an den Traditionen des amerikanischen Gangsterfilms der 1940er und 1950er Jahre orientiert, sollte ursprünglich den „Film noir“ und seine Stars wie Humphrey Bogart ehren. Doch indem er ein Zehn-Zeilen-Exposé von François Truffaut umschrieb, kreierte er ein eigenes, neues Genre: die „Nouvelle vague“. Indem Jean-Paul Belmondo am Ende von „Außer Atem“ der Verlierer ist gegenüber einer nicht nur süßen und unschuldigen Jean Seberg, die knallhart ihre Interessen vertritt, hat sich auch im Folgenden die „Neue Welle“ zu einem Abgesang auf den klassischen Gangsterfilm mit dem stets siegreichen männlichen Protagonisten entwickelt.

Gedreht wurde „Außer Atem“ erstmals mit wackeliger Handkamera und natürlichem Licht, unterlegt mit Alltagsgeräuschen aus Paris. Und geschnitten in der damals neuen Technik des Jump Cut, in der Bildübergänge als Sprünge wahrgenommen werden. Dies hat Alexander Ritter in seinem hochdramatischen achtzigminütigen Kammerspiel aufgegriffen, indem er die Chronologie der Ereignisse in Patricias Wohnung durch an anderen Orten spielende szenische Exkurse und pantomimische Zwischenspiele unterbricht. Und mit Fremdtexten wie Thomas Braschs Gedicht „Was ich habe, will ich nicht verlieren“ von 1977 kongenial ergänzt.

Zwei Neuzugänge glänzen

Auf der intimen Bühne am Rande des Bermuda-Dreiecks legen zwei Rott5-Neuzugänge, die auch als Erzähler fungieren, ein grandioses, vom Publikum gefeiertes Debüt hin. Die Folkwang-Absolventin Elisabeth „Lise“ Wolle, Berlinerin des Jahrgangs 1986, war lange festes Ensemblemitglied am Theater Oberhausen und gewann dort unter anderem den Publikumspreis. Bereits ihr erster Kinofilm, „Endzeit“ von Sebastian Fritzsch, wurde 2013 auf der Berlinale uraufgeführt. Mit „Rebecca“ (2014) und „Berzah“ (2020) wirkte sie zudem in zwei preisgekrönten Hochschul-Kurzfilmen mit.

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Ihr Bühnenpartner und langjähriger Oberhausener Ensemblekollege Henry Morales ist 1990 in Venezuela geboren und in Heidelberg aufgewachsen. Nach seiner Schauspielausbildung an der Kunstuniversität Graz gehörte er zunächst mehrere Jahre zum Ensemble des Theaters Heilbronn. Er ist inzwischen vor allem in Kino-, Fernseh- und Streaming-Produktionen (Sky, Netflix) zu sehen, zuletzt in „Für immer Sommer“ (ARD) und „SOKO Potsdam“ (ZDF). „Außer Atem“ ist wieder am Samstag, 10. Februar 2024, am Sonntag, 10. März 2024, sowie am Freitag, 19. April 2024, jeweils um 19:30 Uhr Rottstr5Theater zu sehen. Karten unter rottstr.de oder Tel 0163 -761 50 71.

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  • Samstag, 10. Februar 2024, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 10. März 2024, um 19:30 Uhr
  • Freitag, 19. April 2024, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann