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Endzeitgesellschaft auf der Müllhalde, v.l. Mario Thomanek, Burghard Braun, Thyra Uhde, Guido Thurk und Tobias Schwieger. In der Mitte Simone Schuster als Marie und Mike Kühne als Woyzeck.

Eine doppelte Opfergeschichte

Woyzeck am WLT

Friedrich Johann Franz Woyzeck (Flaschensammler in prekären Verhältnissen: Mike Kühne), einfacher Soldat und Barbier, läuft Amok: Vom Hauptmann (im schwarzen Leder-Outfit mit Pistole, Koppelschloss und Stiefeln: Burghard Braun ein zynischer Finstermann) gedemütigt und geknechtet, vom Doktor (bösartiger Giftzwerg: Guido Thurk), der seine materielle Not ausnutzt, zu medizinischen Experimenten missbraucht, von der Geliebten Marie (lebenslustige Träumerin: Simone Schuster), die ein Kind von ihm hat, mit dem Tambourmajor (Macho im Karnevalskostüm: Tobias Schwieger) betrogen, von den Offizieren verspottet, schließlich sogar von seinem Freund Andres (großer Kindskopf: Mario Thomanek) im Stich gelassen, verfällt Woyzeck mehr und mehr düsteren Visionen. Das grausige Ende: „Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen kann.“

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Die Marktschreierin (diabolische Erzählerin und gestenreiche Kommentatorin: Thyra Uhde) hat das letzte Wort in der temporeichen, über achtzig Minuten hochspannenden und dabei bis auf wenige Hinzufügungen („Dantons Tod“, „Winterreise“) texttreuen „Woyzeck“-Inszenierung Markus Kopfs am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel, die am 28. Januar 2023 im WLT-Studio am Castrop-Rauxeler Europaplatz Premiere feierte. Sie spielt in der heutigen Zeit auf einer Müllhalde, die Ausstatter Manfred Kaderk mit Atom-Giftmüllfass und Abflussrohren ziemlich apokalyptisch ausgestaltet hat. Mit seinem „Endzeitwall“ greift er das Bild von Menschen auf, die wie Woyzeck und Marie ohne Zukunft am Rande der Gesellschaft leben. Sie sind in diesem Sinne die Letzten der Letzten, die sich vom Abfall der Gesellschaft ernähren müssen.

Die Marktschreierin (Thyra Uhde) als Verführerin, der sich auch Woyzeck (Mike Kühne) nicht entziehen kann.

Der Schriftsteller, Mediziner, Naturwissenschaftler und vormärzliche Revolutionär Georg Büchner (1813 – 1837) schrieb das „Fragment in Prosa“ 1836 in Zürich nach einem in den damaligen medizinischen Fachzeitschriften heftig diskutierten Leipziger Fall: Am 2. Juni 1821 erstach der 41-jährige Johann Christian Woyzeck aus Eifersucht die um fünf Jahre ältere Witwe Johanna Christiane Woost. Trotz zweier Gutachten des Medizinprofessors Johann Christian August Clarus über die Zurechnungsfähigkeit des unter Wahnvorstellungen leidenden Angeklagten wurde Woyzeck verurteilt und 1824 auf dem Leipziger Marktplatz öffentlich hingerichtet.

1879 von Karl Emil Franzos aus Büchners handschriftlichem Nachlass herausgegeben, ist „Woyzeck“ kein Theaterstück im traditionellen Sinn, sondern besteht aus mehreren sich überschneidenden und ergänzenden Bruchstücken. So war die Uraufführung 1913 in München auch nur eine Momentaufnahme: Jeder Regisseur bestimmt durch Auswahl und Reihenfolge der Szenen den Charakter des Stücks selbst. In der über einhundertjährigen Aufführungsgeschichte war Woyzeck ’mal ein tragisches Opfer seines verstörten Wesens und seiner pathologischen Visionen, ’mal das hilflose Opfer des zynischen Doktors, der ihn für seine inhumanen wissenschaftlichen Experimente missbrauchte, bisweilen gar ein halbzivilisierter kostümierter Affenmensch, der an Markttagen dem Volk am Halsband vorgeführt wurde. Vor allem aber war Woyzeck immer wieder das Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse.

So auch bei Markus Kopf am WLT, dessen beherzter Zugriff auf den Stoff nicht nur Gymnasiasten im Abiturfach Deutsch begeistern wird: Mit einem Klasse-Ensemble um den herausragenden Mike Kühne inszeniert er Georg Büchners Klassiker, den man zu kennen glaubt, mit circensischen Anleihen und anderen Verfremdungs-Effekten auf so spektakuläre wie höchst unterhaltsame Weise, dass man den „Woyzeck“ ganz neu erlebt - als eine doppelte Opfergeschichte über einen, der selbst misshandelt wird und seine Frau misshandelt, bis er sie, in einer hier sehr dezent inszenierten Szene, am Ende ermordet.

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Die nächsten Vorstellungen in unserer Region: Am Donnerstag, 30. März 2023, um 18 Uhr im Theater Marl und am Sonntag, 23. April 2023, um 18 Uhr in der Stadthalle Castrop-Rauxel. Karten unter westfaelisches-landestheater oder Tel. 02305 – 97 80 20.

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  • Donnerstag, 30. März 2023, um 18 Uhr
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  • Sonntag, 23. April 2023, um 18 Uhr
| Quelle: Pitt Herrmann