
Grandioser „Falstaff“ in Gelsenkirchen
'Wir sind alle Betrogene!'
„Wer braucht schon Regeln, wenn man Chaos haben kann?“: Falstaff (der mit Ovationen gefeierte britische Bariton Benedict Nelson), Titelheld der letzten Oper des 80-jährigen Giuseppe Verdi, taucht auf der Gelsenkirchener Bühne aus dem Nichts auf und gibt statt des – nicht minder und völlig zu Recht gefeierten – GMD Rasmus Baumann den Einsatz für die einmal mehr überragenden Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen, von denen sich einige auf die Bühne „verirrt“ haben.
Gelungener Einstand
So nimmt die in jeder Hinsicht überaus gelungene Einstands-Inszenierung des neuen MiR-Intendanten, die nicht nur das Parkett, sondern sogar den Orchestergraben einbezieht, gleich zu Beginn das heiter-theatralische Ende nach beglückenden 160 Minuten voraus: „Alles ist Spaß auf Erden“. Frank Hilbrich nimmt nach dem Interimsjahr, in dem Michael Schulz bereits am Staatstheater Saarbrücken tätig ist, zur Spielzeit 2026/27 am Kennedyplatz seine Arbeit auf, bereitet aber natürlich schon jetzt die übernächste Saison vor.
Nelson singt Wagner
Nelson, der ans Staatstheater Saarbrücken wechselt, aber dennoch ab 27. September 2025 die Titelpartie der von der Wanne-Eickelerin Gabriele Rech konzipierten Wagner-Inszenierung „Der fliegende Holländer“ am MiR übernimmt, ist ein stattliches Mannsbild. Seinen Schmerbauch aber, welcher der Shakespearschen Vorlage des Librettisten Arrigo Boito, „Die lustigen Weiber von Windsor“, entspringt, führt er als Fatsuit wie ein Requisit mit sich. Solche Fiktionsbrechungen ziehen sich durch den ganzen Abend, der den Gattungsbegriff „Commedia lirica“ wörtlich nimmt.
Liebesbrief-Transparent

So liest die mit dem Hausherrn Ford (Simon Stricker) verheiratete Alice (Heejin Kim), welcher der großspurige Genießer Falstaff ebenso nachjagt wie der sich ebenfalls in festen Händen wohlfühlenden Meg Page (Constanze Jader) ihren Liebesbrief-Text von einem der Transparente ab, mit denen Volker Thiele die obere Hälfte der vertikal zweigeteilten Bühne zugepflastert hat – von „Im Unterbewusstsein strömt Anarchie“ über „Enthaltsamkeit ist aller Laster Anfang“ bis hin zur live eindrucksvoll widerlegten Behauptung: „Essen ist die einzige Kunstform, die man genießen kann.“
Paradepartie für Almuth Herbst
Falstaff und seine beiden Kumpane Bardolfo (Benjamin Lee) und Pistola (Yefhen Rakhmanin) müssen es freilich auch mit der resoluten Mrs. Quickly (Paradepartie für Almuth Herbst), einer Bekannten von Alice und Meg aufnehmen, während Fenton (Adam Temple-Smith alternierend mit Khanyiso Gwenxane) mit der Ford-Tochter Nannetta (Margot Genet alternierend mit Subin Park vom Opernstudio NRW) angebandelt hat – zum Ärger des designierten, da wohlhabenden Schwiegersohns des Gastgebers Ford, Dr. Cajus (Martin Homrich).
Turbulente Verwicklungen
Für reichlich turbulente Verwicklungen ist also gesorgt im nur aus Tischen gebildeten variablen Bühnenbild, das in der Maskerade des dritten Aktes eine Hauptrolle spielt. „Da kommt das dicke Ding“ – mit Schweinskopf und rosa Tütü: Frank Hilbrich desavouiert Falstaff nicht als lächerliche Figur, sondern entlarvt mit den bewussten Provokationen des Titelhelden vielmehr eine Gesellschaft, die sich über ihn lustig macht, weil sie sich als tugendhaft ausgibt und sich überhaupt für moralisch überlegen hält.
Das ist nicht nur ein sehr aktueller, sondern auch höchst stringenter Ansatz (Dramaturgie; Larissa Wieczorek), der die Gelsenkirchener Vorgänger klar in den Schatten stellt, Ludwig Baums Kammeroper 1991 mit Falstaff als Ritter von der traurigen Gestalt und Nicholas Broadhursts schräge, in die Millennium-Gegenwart einer schmuddeligen Striptease-Bar verlegte Version zum 100. Todestag Giuseppe Verdis.
Glasklarer Klang aus dem Graben
Vor allen: Bei Hilbrich kommt die Komödie nicht zu kurz, optisch fabelhaft ergänzt von den pastellfarbenen Kostümen der konservativen 1950er Jahre, die Gabriele Rupprecht dem Weiber-Quartett hat schneidern lassen. Doch das alles wäre nichts, wenn nicht aus dem Graben eine beinahe jedes Instrument herauszuhörende Klarheit käme, wie sie sonst nur im Konzerthaus des Wiener Musikvereins am Karlsplatz zu erleben ist. Am Ende schließt sich der Kreis, wenn Falstaff das Szepter übernimmt: „Ein Chor noch und dann beenden wir das Spiel!“. In der Schlussfuge erkennt sich die Gesellschaft selbst: „Tutti gabbati!“ – „Wir sind alle Betrogene!“.
Die weiteren Vorstellungen im Großen Haus des MiR
- Samstag, 21. Juni 2025, 19 Uhr
- Sonntag, 29. Juni 2025, 16 Uhr
- Donnerstag, 3. Juli 2025, 19:30 Uhr
- Sonntag, 6. Juli 2025, 18 Uhr
- Freitag, 11. Juli 2025, 19:30 Uhr (im Anschluss: Bargespräche im Foyer)
Karten
Karten unter musiktheater-im-revier oder Tel 0209 – 4097200.
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- Samstag, 21. Juni 2025, um 19 Uhr
- Sonntag, 29. Juni 2025, um 16 Uhr
- Donnerstag, 3. Juli 2025, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 6. Juli 2025, um 18 Uhr
- Freitag, 11. Juli 2025, um 19:30 Uhr