
Neu im Kino
'Was man von hier aus sehen kann'
„Ich kenne hier niemand, der nichts versteckt“ sagt Luise (Luna Wedler), die Ich-Erzählerin, die bei ihrer Großmutter Selma (Corinna Harfouch) in einem abgelegenen Dorf im Westerwald aufgewachsen ist (gedreht wurde im September und Oktober 2021 im hessischen Dörfchen Ulrichstein) und nun in der Buchhandlung von Herrn Rödder (Thorsten Merten) arbeitet. Schon als Kinder waren Luise (Ava Petsch) und Martin (Cosmo Taut) unzertrennlich. In Selmas Dielenboden markiert ein roter Kreis, den der Optiker (Karl Markovics) seinerzeit als Warnung gezogen hat, die Stelle, in der Oma in jungen Jahren (Sophia Vogel) beim Servieren einer Entenbrust eingebrochen ist.
Oma Selma hat eine besondere Gabe, denn sie kann den Tod voraussehen. Immer, wenn sie an ihren verstorbenen Mann gedacht hat und ihr dann im Traum ein Okapi erschienen ist, starb am nächsten Tag jemand im Ort. Viermal ist das bereits passiert und stets war unklar, wen es treffen wird. Etwa den Optiker, der mit inneren Stimmen kämpft, welche seine Gedanken und Handlungen stets in Frage stellen oder spöttisch kommentieren, und der heimlich Selma liebt, ihr seit Jahren Liebesbriefe schreibt, aber nicht den Mut aufbringt, sie ihr zu übergeben?
Oder Martins Vater, den zornigen Palm (Peter Schneider), der immer betrunken ist und seinen Sohn schlägt? Die abergläubische Elsbeth (Hansi Jochmann), welche buddhistische Mönche in ihrem Haus beherbergt? Gar Luises Mutter, die Blumenladenbesitzerin Astrid (Katja Studt), deren Gatte, der Dorfarzt, sich früh aus dem Staub gemacht hat („Ich will hier einfach nicht vergammeln“) und Trost gefunden hat beim Eiscafé-Besitzer Alberto (Jasin Challah), der eigentlich gar kein Italiener ist, sondern ein Grieche? Vielleicht die immer so traurig ausschauende, in Wirklichkeit aber nur schlecht gelaunte Marlies (Rosalie Thomass), die an Lidwandentzündung leidet und nur Luise und Martin in ihr abbruchreifes Haus einlässt? „Mich triffts bestimmt nicht“, ist Marlies überzeugt, „das muss ich schon selbst erledigen.“

„Mir tut alles so weh. Alt sein ist scheiße“ nimmt Selma kein Blatt vor den Mund, als Luise vorbeischaut und ihre Befürchtung offenbart, von ihr das zweite Gesicht geerbt zu haben. Denn nun hat auch sie im Traum ein Okapi gesehen, was die schwatzhafte Elsbeth sogleich unter die Leute bringt. Im ganzen Dorf geht die Todesangst um und der einzige Briefkasten quillt förmlich über vor letzten Geständnissen. Und dann ist auch noch Selmas Hund Alaska verschwunden, drei Mönche helfen bei der Suche, darunter auch der 25-jährige Frederik (Benjamin Radjaipour), in den sich Luise sogleich verliebt. Doch der heimliche Schokoladenliebhaber wird bald in sein Kloster nach Japan zurückkehren…
Mit „Was man von hier aus sehen kann“ gelang der in Berlin und Zürich lebenden Autorin Mariana Leky 2017 ein wahrer Überraschungshit. Der 320-Seiten-Roman wurde seither mehr als 800.000-mal verkauft und in 22 Sprachen übersetzt, Sandra Hüller (demnächst wieder am Schauspielhaus Bochum) hat das Hörbuch noch im gleichen Jahr für tacheles!/Roof Music eingesprochen. Aron Lehmann hat daraus ein phantasievolles, gut einhundertminütiges Drama über die Liebe unter schwierigen Vorzeichen und die Suche nach dem Sinn im Leben gemacht.
Dabei ist der Tod ein ständiger Begleiter des Lebens und der Liebe. Selma trauert ihrem Gatten immer noch nach, obwohl sie in seinem Tagebuch lesen musste: „Der Sex mit Renate raubt mir den Verstand.“ Und Luise kommt einfach nicht über den Unfalltod Martins hinweg, der beim täglichen Gedächtnis-Spiel im Schienenbus zur Schule aus dem Zug gefallen ist. Sein Vater Palm ist darüber zum Abstinenzler und gläubigen Christen geworden. „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein großartiger Film über das Leben, verpasste Chancen, Glück und Trauer. Dessen verwickelte Handlung auch durch die ständige Vermischung der Zeitachse nicht konkret fassbar wird: eine heutige, von der Landschaft und ihren skurrilen Bewohnern lebende Dorfgeschichte mit Zug ins Legenden- und Märchenhafte. Nach der Uraufführung am 12. Dezember 2022 in den Arri-Kinos München kommt die hochkarätig besetzte Komödie, deren Protagonisten sich gleich zu Beginn vor der Kamera Christian Reins positionierend vorstellen, am 29. Dezember 2022 in unsere Kinos. Bei uns zu sehen im Casablanca Bochum, in den Essener Lichtspielhäusern Eulenspiegel und Rio sowie ab 19. Januar 2023 auch im Kino Endstation in Bochum.