
Abel Ferrara und William Dafoe im Doppelpack
Tommaso und Siberia
Sie sind beide gebürtige Amerikaner, leben beide in unmittelbarer Nähe in Rom, sind beide mit erheblich jüngeren Frauen verheiratet – und haben inzwischen sieben Filme gemeinsam gemacht: der Drehbuchautor Abel Ferrara und sein Hauptdarsteller Willem Dafoe. „Tommaso und der Tanz der Geister“ erlebte seine Deutsche Erstaufführung am 15. Oktober 2019 beim Filmfest Köln und sollte ursprünglich erst am 9. April 2020 in unsere Kinos kommen. Der Start wurde recht kurzfristig vorverlegt, da der nächste Film dieses Duos bereits in den Startlöchern steht: „Siberia“ feierte am 24. Februar 2020 Uraufführung auf der Berlinale und kommt am 19. März 2020 in die Lichtspielhäuser.
Tommaso (William Dafoe) lebt mit seiner aus Russland stammenden Frau Nikki (Regisseursgattin Cristina Chiriac) und seiner dreijährigen Tochter Deedee (Regisseurstochter Anna Ferrara) in Rom. Für den amerikanischen Künstler, der jenseits des Großen Teichs in jeder Hinsicht nur den Ausnahmezustand kannte, ist das Familienleben wie eine Neugeburt. Obwohl daheim rund um die Uhr russisches Fernsehen läuft, er mit seiner Frau englisch spricht inmitten einer fremdsprachigen Umgebung. Nicht zuletzt muss von der Essenszubereitung bis zum Abwasch alles in Handarbeit erledigt werden: die moderne Technik hat den letzten Winkel der italienischen Hauptstadt noch nicht erreicht.
Die Vorgeschichte des Paares ist ausgeklammert. Nur soviel wird deutlich, dass Tommaso daheim in den Staaten offenbar ein Leben am Limit geführt hat: Alkohol, Drogen, Sex – Hedonismus pur. Von diesem Egotrip wird er hier gründlich erlöst: Intim sein kann er mit Nikki nur auf dem Sofa – wenn die Kleine, unbestrittene Herrscherin im Schlafzimmer, gerade nicht nach „Mama“ schreit. Um als Ehemann und Vater glücklich zu werden, muss sich Tommaso neu justieren, muss Verantwortung übernehmen: Jetzt stehen das Erlernen der italienischen Sprache, Yoga-Kurse zur Entspannung und Spielplatz-Stunden mit Deedee ganz oben auf dem Programm.

Wo der großgewachsene Amerikaner unter all' den italienischen Müttern naturgemäß für Aufsehen sorgt. Kochpläne müssen aufgestellt, Einkaufszettel abgearbeitet, Schlafenszeiten möglichst eingehalten und Beziehungsprobleme ausgehalten werden: Tommaso versucht trotzdem, weiter als Künstler kreativ zu bleiben. Er meditiert, gibt Körpertraining und Schauspielunterricht, arbeitet nachts an einem neuen Film und sucht psychologische Unterstützung bei einer den Anonymen Alkoholikern entsprechenden Selbsthilfegruppe. Doch er kann seine Vergangenheit nicht einfach an der Garderobe ablegen. Sie sucht ihn in abgründigen, schmerzhaften Träumen heim...
„Tommaso“, so der Originaltitel des am 20. Mai 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen Cannes uraufgeführten knapp zweistündigen und wohl bisher persönlichsten Films des begnadeten Geschichtenerzählers Abel Ferrara („Bad Lieutenant“, „Pasolini“), ist eine Rückkehr des erzkatholisch erzogenen, 2003 nach Alkohol- und Drogenexzessen von New York nach Rom geflüchteten und ausgerechnet dort zum Buddhismus konvertierten Filmemachers zu seinen (süd-) italienischen Wurzeln. Mit der 1955 in Wisconsin geborenen amerikanischen Schauspiellegende Willem Dafoe („Van Gogh“, „Der Leuchtturm“) als Tommaso hat er sich ein faszinierendes Alter Ego geschaffen, das wie im Brennglas von Abgründen (im Traum erschießt er den jungen Liebhaber seiner Frau) und Hoffnungen (einer von jungen Frauen umschwärmten Vaterfigur) erzählt.
Seine vom neapolitanischen Lied „Tu vuo fa l'americano“ Renato Carosones durchzogene Geschichte über den unruhigen Künstlergeist und seine endlose Identitätssuche hat der 1951 in der New Yorker Bronx geborene Abel Ferrara bewusst in der italienischen Hauptstadt angesiedelt: Er versteht „Tommaso“ auch als eine sehr persönliche Hommage an Regiekollegen wie Woody Allen und besonders Federico Fellini, und ganz generell an die italienische Lebensart, weshalb man wenn möglich die OmU-Fassung sehen sollte. Zu dieser Italianità gehört im Grunde auch die US-Produktion „Die letzte Versuchung Christi“: in Martin Scorseses Romanadaption von 1988, die Ferrara in einer Kreuzigungs-Traumsequenz zitiert, spielt Dafoe die Titelrolle. Besagtes Lied, das mehrfach Filmgeschichte schrieb (u.a, „Der talentierte Mr. Ripley“, „The American“), ist zuerst 1960 auf der Leinwand gesungen worden – von Sophia Loren in „Es begann in Neapel“.
In „Siberia“ von Abel Ferrara und Co-Autor Christ Zois spielt Willem Dafoe mit Clint einen vom Leben gezeichneten Mann. Um endlich seinen inneren Frieden zu finden, hat er sich in eine einsame Hütte in den verschneiten Bergen zurückgezogen. Dort betreibt er ein kleines Café, in das sich nur selten Reisende oder Einheimische verirren. Aber selbst in der Abgeschiedenheit findet Clint keine Ruhe. Eines schicksalhaften Abends bricht er mit seinem Hundeschlitten auf, getrieben von der Hoffnung, sein wahres Ich zu finden. Eine Reise durch seine Träume, Erinnerungen und Fantasien beginnt…
„Siberia“, koproduziert von den beiden Münchner Unternehmen Maze Pictures und Bavaria Film, ist eine 92-minütige poetische Reise eines Mannes in sein eigenes Unterbewusstsein – und insofern eine zugespitzte Fortsetzung von „Tommaso“. Die moderne Odyssee, in weiteren Hauptrollen Dounia Sichov, Simon McBurney und Cristina Chiriac vor der Kamera Stefano Falivenes, ist am 24. Februar 2020 im offiziellen Wettbewerb der 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin uraufgeführt worden.
„Tommaso und der Tanz der Geister“ wird ab 5. März 2020 im Kino Endstation in Bochum-Langendreer gezeigt, „Siberia“ läuft ab 19. März 2020 unter anderem im Sweet Sixteen in Dortmund.