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„Vögel“ am WLT: (v.l.) Mike Kühne, Kathrin Marén Enders, Tobias Schwieger, Mario Thomanek und Guido Thurk. Nun geht es ins Kulturzentrum Herne.

'Vögel' im Kulturzentrum

Theater, das unter die Haut geht

Mit einer zweifellos virtuosen, aber auch allzu geschwätzigen Anmache gelingt es Eitan („der Kräftige“: Tobias Schwieger), in der Bibliothek der Columbia University die Kommilitonin Wahida („die Einzigartige“: Simone Schuster) auf sich aufmerksam zu machen. Der aus Berlin nach New York gekommene deutsche Jude studiert Genetik und baggert seine Sitznachbarin höchst erfolgreich mit schwindelerregenden Wahrscheinlichkeitsrechnungen über das Leben und die Liebe an. Sie ist Amerikanerin arabischer Herkunft, ohne Eltern in den USA aufgewachsen und schreibt gerade ihre Doktorarbeit über Leo Africanus, einen arabischen, zum Christentum konvertierten Gelehrten und Diplomaten aus dem 16. Jahrhundert.

Eitans Vater David (Mario Thomanek), selbst Sohn eines Holocaust-Überlebenden, kann diese Verbindung nicht akzeptieren. Weder Eitans Mutter Norah (Kathrin Marén Enders), noch der Großvater Etgar (Guido Thurk) können schlichten. Der Konflikt eskaliert und Eitan beginnt sogar, seinen biologischen Stammbaum anzuzweifeln. Auf der Suche nach Antworten begibt sich das junge Paar auf eine Reise nach Israel, wo Eitans Großmutter Leah Kimhi (Gabriele Brüning) lebt. An einem Checkpoint werden die beiden getrennt. Während Wahida sich der Personenkontrolle durch die israelische Soldatin Eder (Franziska Ferrari) unterziehen muss, wartet Eitan im Bus und wird dort zum Opfer eines Anschlags.

Eitan liegt im Krankenhaus

Eitan liegt im Krankenhaus und Wahida an seiner Seite hofft, dass er aus dem Koma erwacht. Als die Zimmermanns aus Berlin eintreffen, herrschen in Israel bereits kriegsähnliche Zustände, kurz darauf wird auch der Flughafen geschlossen. Eitans Angehörige sitzen fest und können der Wahrheit nicht mehr länger aus dem Weg gehen: David, der gerade noch eine große Hassrede auf die Palästinenser gehalten hat, erfährt als Letzter, dass er nicht Etgars und Leahs Sohn ist. Währenddessen reist Wahida zu den Wurzeln ihrer eigenen Herkunft nach Ramallah…

Wahida (Simone Schuster) und Eitan (Tobias Schwieger) – eine Liebe ohne Zukunft?

Vögel des Zufalls, sie kommen und gehen, ohne dass wir verstehen, warum: „Tous des oiseaux“ ist am 17. November 2017 vom Autor Wajdi Mouawad in seinem Pariser Theater uraufgeführt worden, zum Cast seiner vierstündigen Inszenierung gehörte auch das frühere Bochumer Ensemblemitglied Judith Rosmair. Wie ein Schwarm Unglücksvögel kreisen Fragen nach religiöser, kultureller und nationaler Zugehörigkeit über Familie und Gesellschaft im ursprünglich auf Französisch geschriebenen Stück, wobei es der Verfasser selbst für eine vielsprachige Version in Deutsch, Englisch, Hebräisch und Arabisch übersetzen ließ.

Mouawad schreibt als Praktiker

Nach der Deutschsprachigen Erstaufführung am 16. November 2018 im Schauspiel Stuttgart ist „Vögel“ das meistgespielte Stück auf unseren Bühnen. Weil es der im Libanon geborene, in Paris lebende kanadische Dramatiker wie kein zweiter Autor versteht, die ewigen Themen kultureller Gegensätze mit solch emotionaler Tiefe auf die Bühne zu bringen. Man merkt seinen Stücken an, dass Mouawad nicht aus dem Elfenbeinturm schreibt, sondern als Praktiker, der nicht nur selbst Schauspieler ist, sondern auch Autor, Regisseur und Intendant am Théâtre national de la Colline in Paris.

Regisseur Gert Becker hat „Vögel“ nun am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel in einer rein deutschen Fassung herausgebracht, am Premierenabend des 5. Februar 2022 nach 110 spannenden, unter die Haut gehenden Minuten vom sichtlich bewegten Publikum in der Castrop-Rauxeler Stadthalle heftig bejubelt. Er sah sich gezwungen, für seine in kurze, markante Spots gegliederte, mit einem Knalleffekt beginnende Inszenierung, die im israelischen Krankenhaus beginnt und als Rückblick angelegt ist, etwa die Hälfte der Vorlage dem Rotstift zu opfern. Was Wajdi Mouawads sehr differenziertem Blick auf Vergangenheit und Gegenwart im Nahen Osten, den man aushalten muss, auch wenn es hier, im Gegensatz zu anderen seiner Stücke, kaum einen Hoffnungsschimmer gibt, nicht geschadet hat.

Konzentration auf den Kern der Geschichte

„Wir konzentrieren uns auf den Kern der Geschichte, die, das muss man sagen, sehr emotional und hart geworden ist“, so Gert Becker: „Aber neben der ganzen Tragik tauchen auch immer wieder komische Momente auf – beides überschneidet sich und liegt nah beieinander. Es gibt schöne und gemeine Momente, Träume und Traumata und vor allem kein Happy-End. Mir war es zudem wichtig, dass das Stück eine eiskalte Atmosphäre hat.“

Weshalb Ausstatterin Elke König einen gekachelten Raum geschaffen hat, der an eine Intensivstation (Mike Kühne u.a. als Arzt), eine Kühlkammer oder ein Schlachthaus erinnert. Die häufigen szenischen Umbauten werden folgerichtig von „Schlachtern“ durchgeführt, die nicht nur Möbel hinaustragen, sondern auch Leichen. Und das vor dem akustischen Hintergrund eines Pulsschlags, der sich durch das ganze Stück zieht. Das Westfälische Landestheater gastiert mit „Vögel“ am Dienstag, 18. April 2023, um 19.30 Uhr im Herner Kulturzentrum. Karten: www.proticket.de ab 18 Euro.

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  • Dienstag, 18. April 2023, um 19:30 Uhr
Montag, 7. Februar 2022 | Autor: Pitt Herrmann