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Neu im Kino: 'Vatersland'. Glückliche Zeiten: Marianne (Margarita Broich) kuschelt mit ihrer kleinen Tochter Marie (Felizia Trube).

„Lebens-Film“

Neu im Kino: Vatersland

Mit dem DDR-Schlager „Ich hab die gute Laune im Gepäck“ von Günter Geißler, den es zu dieser Zeit wohl nur in Petra Seegers „Vatersland“ ins rheinische Köln gebracht hat, werden zum Auftakt ihres knapp zweistündigen „Lebens-Films“ Familienbilder aus dem Zweiten Weltkrieg und der westdeutschen Wirtschaftswunderzeit danach unterlegt.

Filmemacherin Marie (Margarita Broich) steckt nach dem Tod ihres Vaters in einer Schaffenskrise. Rückblickend auf ihr Leben ist eines für sie klar: „Lilly darf das nicht passieren, was mir passiert ist.“ Gemeint ist ihre halbwüchsige, sehr behütet aufwachsende Tochter (Nina Coenen) und die Tatsache, dass sie selbst im Alter von zehn Jahren ihre Mutter Marianne (in Rückblenden: ebenfalls Margarita Broich) verloren hat und an der Seite ihres älteren Bruders Wolfgang (Matti Schmidt-Schaller) hilf- und trostlos den Launen ihres Vaters (Bernhard Schütz) ausgesetzt war, der wie seine ganze Generation desillusionierter Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft unfähig zur Trauer war.

Neu im Kino: 'Vatersland'. Die zehnjährige Marie (Momo Beier) muss anstatt der kranken Mutter viel Hausarbeit erledigen.

Als eines Morgens aus dem Nachlass des Vaters eine Truhe voller Fotos und Filmrollen vor die Tür gestellt wird, zieht sich Marie auf den Dachboden ihres Elternhauses zurück, um das Material zu sichten – und sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen. Die als Achtjährige (Felizia Trube) im Schoß der in einer Kölner Arbeitersiedlung lebenden Familie beginnt: ihr Vater ist Werksfotograf bei Ford und kann sein Arbeitsgerät, den Fotoapparaten folgt später die erste Filmkamera, an den Wochenenden mit nach Hause nehmen.

Was dieser weidlich nutzt zu privaten Aufnahmen einer glücklichen Familie, die es im Camping-Urlaub in den sonnigen Süden zieht mit Freddy Quinns „Hundert Mann und ein Befehl“ aus dem Autoradio. Doch dann erkrankt die Mutter an Krebs, was Marie zufällig durch eine Lehrerin erfährt, und sie muss sie daheim ersetzen. Was naturgemäß ihre Kräfte übersteigt: „Du sollst tot sein“ ist kein frommer Wunsch. Der dennoch erfüllt wird, weshalb sich Marie ein Leben lang Vorwürfe macht.

„Das ist nichts für Mädchen, Mädchen gehören vor die Kamera“ entscheidet der Vater. Lässt Tochter Marie (nun Momo Beier) vor seinen Objektiven posieren und ansonsten die Hausarbeiten erledigen, während er Sohn Wolfgang in die Kunst des Fotografierens einführt, obwohl der sein Interesse zur vorspielt. Als Marie immer stärker opponiert, wird sie kurzzeitig bei den Großeltern (Christiane Blumhoff und Josef Hofmann) auf dem Land irgendwo im Süden der Adenauer-Republik, in der die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau klar geregelt ist, geparkt und schließlich in das Internat einer Klosterschule gesteckt.

Inzwischen zu einer jungen Frau gereift (Stella Holzapfel), die sich weder von Nonnen noch vom Vater ein X für ein U vormachen lässt („Der Gott sieht alles, auch unter der Bettdecke“), genießt Marie die politisch aufgeheizte Atmosphäre der Siebziger Jahre. Ihr Bruder hat die großelterlichen Räume in eine Wohngemeinschaft umfunktioniert, wobei den vornehmlich weiblichen Bewohnern promiskuitiver Sex wichtiger ist als dröge Schulungen maoistischer Kommunisten. Was sie nicht daran hindert, an der Seite Rudi Dutschkes in Berlin zu demonstrieren. Für Marie ein Erlebnis, dass ihr weiteres Leben grundlegend verändert…

„Vatersland“, gewidmet ihrem am 22. Januar 2020 verstorbenen Gatten, dem Produzenten Joachim von Mengershausen, ist nach Petra Seegers preisgekröntem Dokumentarfilm „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ über Nobelpreisträger Eric Kandel ihr erster Spielfilm, der am 3. Oktober 2020 beim Filmfest Köln uraufgeführt wurde, coronabedingt aber erst am 10. März 2022 in die Kinos gekommen ist. Großes Erinnerungskino sehr persönlicher Art paart sich mit einem genuin weiblichen Blick auf die reaktionäre Nachkriegszeit der Adenauer-Ära. Ein Biopic der außergewöhnlichen Art: Alle im Film verwendeten Familienfotos und 16mm-Filmaufnahmen kommen aus dem Privatarchiv der Regisseurin.

Petra Seeger im W-film-Presseheft: „Mir war daran gelegen, einen Film zu drehen, der möglichst authentisch den Gefühlen, Erlebnissen und schmerzhaften Momenten meiner Kindheit Ausdruck verleiht. Es ging um nichts Geringeres, als sich wieder in dorthin zurückzubegeben, sich zu erinnern, hinabzusteigen um Schätze, Verborgenes und Schmerzhaftes ans Tageslicht zu bringen und diesen vereinzelten Erinnerungen eine künstlerische Form zu geben; aus den einzelnen Fragmenten einen Fluss zu kreieren, der zur filmischen Erzählung wird.“

„Vatersland“ läuft zur Zeit im Kino Endstation Bochum, im Filmstudio Glückauf Essen sowie im Sweet Sixteen Dortmund, dort noch bis zum 23. März 2022.

Dienstag, 15. März 2022 | Autor: Pitt Herrmann