halloherne.de

lokal, aktuell, online.
Lara (Corinna Harfouch) mit ihrem Sohn Viktor (Tom Schilling).

Ensemblefilm mit Corinna Harfouch

Neu im Kino: Lara

Morgenstund hat Gold im Mund? Nicht für Lara Jenkins (Corinna Harfouch), die an ihrem 60. Geburtstag in der Frühe unsanft von der Couch, auf der sie statt im Bett genächtigt hat, geklingelt wird: Zwei Polizisten (Johann von Bülow und Alexander Khuon) holt sie als Zeugin einer Wohnungsdurchsuchung beim Nachbarn Czerny (Andre Jung). Als pensionierte Mitarbeiterin der Berliner Stadtverwaltung kann sie sich nicht entziehen: „Einmal Beamter, immer Beamter“ weiß der Uniformierte.

Anzeige: Spielwahnsinn 2024

Die Polizisten gehen nicht eben pfleglich um mit den Büchern und anderen Gegenständen, die sie aus den Regalen der Nachbarswohnung holen. Wobei es nicht nicht nur um den älteren, schon seit geraumer Zeit pensionierten Witwer geht, sondern um seinen rotzigen Sohn Sascha (Edin Hasanovic). Wahrscheinlich Drogen, aber Genaueres ist nicht zu erfahren. Nur, dass am Ende nichts gefunden worden ist. Lara wohnt im einst angesagten Hansaviertel und ist, das belegt ein Haufen zerknüllten Papiers auf ihrem Schreibtisch, schon längere Zeit dabei, einen Brief zu schreiben.

Ihr Sohn Viktor (Tom Schilling) gibt an diesem Abend das wichtigste Klavierkonzert seiner bisherigen Pianisten-Karriere, denn es soll seine erste eigene Komposition uraufgeführt werden. Lara, einst selbst eine vielversprechende Klavierschülerin am Konservatorium bei Professor Reinhofer (Volkmar Kleinert), hat Viktors musikalischen Werdegang befördert und wenn nötig auch forciert. Weshalb es nicht nur ihr merkwürdig erscheint, dass sie ihren Sohn schon seit Wochen nicht mehr erreicht hat. Was sie nicht weiß: Viktor ist bereits vor zwei Monaten bei seiner Großmutter (Gudrun Ritter) eingezogen, in Laras bescheidenes, idyllisch im Grünen gelegenes Elternhaus.

Was wohl auch damit zusammenhängt, dass sein Vater (Rainer Bock), ein erfolgreicher Ingenieur, inzwischen mit einer neuen, vergleichsweise jüngeren und attraktiveren Frau (Birge Schade) zusammenlebt. Die Funkstille zu seiner Mutter hat freilich tiefere Gründe, die erst nach und nach ans Licht kommen: ihre Egozentrik hat Lara von allen Familienmitgliedern entfremdet, von der eigenen Mutter, von ihrem Mann und schließlich auch von ihrem Sohn. Den sie nach der Generalprobe im Konzerthaus aufsucht – und ihm nach Studium der Noten nicht gerade Mut macht für den Abend.

Dennoch kauft Lara, die zuvor bei der Bank ihr Konto leergeräumt hat, sämtliche Restkarten für Viktors Konzert und verteilt sie an ehemalige Kollegen in der Stadtverwaltung, an ihren alten Musikprofessor und schließlich an Unbekannte, denen sie im Verlauf des Tages begegnet, so etwa die taffe Verkäuferin im Modehaus (Friederike Kempter), die ihr zu einem flotten Cocktailkleid verhilft, das sie gleich anbehält, kurz vor Konzertbeginn dann aber doch noch gegen ihr altes austauscht. Und dann das: In einem Cafe wird sie von Viktors Freundin Johanna (Mala Emde) angesprochen, die auch schon längere Zeit nichts mehr von ihm gehört hat. Sie studiert Violine am Konservatorium – und Lara zerbricht in einem unbeobachteten Moment den Bogen in ihrem Geigenkasten.

Ein Ausbruch von Boshaftigkeit einer Frau, die sich gegen jedermann kühl und abweisend gibt, selbst gegen den taxifahrenden Nachbarn Czerny, der ihr einen Geburtstags-Blumenstrauß überreicht und sie selbstverständlich kostenlos durch Berlin kutschiert. Lara stößt auch die von ihr mit Eintrittskarten beglückten Konzertbesucher vor den Kopf. Erst als sich der große Erfolg ihres Sohnes abzeichnet, den sie nicht im Parkett, sondern zwischen Tür und Angel verfolgt, kann sie sich dazu durchringen, mit einigen von ihnen, darunter ihrem einstigen Lehrer Reinhofer, in der Brasserie gegenüber auf das Wohl Viktors anzustoßen. Der feiert mit Oma, Vater und engen Freunden unter dem gleichen Dach, sodass sich Mutter und Sohn zwangsläufig begegnen: mitten im Trubel herrscht eisernes Schweigen zwischen ihnen...

Für „Lara“, seine erste Regiearbeit nach seinem erfolgreichen, mit sechs Lolas ausgezeichneten Debüt „Oh Boy“, hat Jan-Ole Gerster ein eindrucksvolles Ensemble vor dem mehrfach ausgezeichneten Kameramann Frank Griebe („25 km/h“, „Babylon Berlin“, „Das Parfüm“) versammelt. In der Titelrolle spielt Corinna Harfouch eine von Ehrgeiz zerfressene Frau, die ein Leben lang ausgeteilt hat, weil sie Beamtin geworden ist statt Musikerin, und nun einstecken muss. Gerster lässt freilich vieles offen: Was hat Lara vor, wenn sie einen Stuhl ans Fenster ihrer in einem oberen Stockwerk der Hansaviertel-Wohntürme gelegenen Wohnung stellt? Wem versucht sie immer wieder von Neuem einen Brief zu schreiben? Warum trägt sie einen Stapel Geldscheine mit sich herum? Alles Hinweise, dass Lara mit ihrem Leben abgeschlossen hat. Und das bereits vor der für sie niederschmetternden Kunde, dass sie seinerzeit von ihrem Professor für ein großes Talent gehalten worden ist, obwohl er ihr dieses stets abgesprochen hat. Das mache er bei seinen Schülern bis heute so, denn zum Talent müsse auch das Durchsetzungsvermögen kommen...

Jan-Ole Gerster: „Unter all ihrem vermeintlich niederträchtigen, widersprüchlichen und manipulativen Handeln entblättert sich im Fortlauf der Geschichte ein großer Schmerz – das Drama eines falsch gelebten Lebens. Lara ist eine Kämpferin, die bis zuletzt um die Deutungshoheit ihres Lebens ringt. Ob sie die Einsicht über eine falsche Entscheidung noch an sich heranlassen wird oder ob sie weiter insistiert, bleibt das Geheimnis des Films.“ Knapp einhundert Minuten verlorene Träume, Liebe zur Musik und ein katastrophales Mutter-Sohn-Verhältnis: Das mit dem Media New Talent Award der Europäischen Union ausgezeichnete Drehbuch hat der slowenische Autor, Fotokünstler und Filmemacher Blaz Kutin geschrieben in Zusammenarbeit mit dem TorinoFilmLab. Die Musik des Echo Klassik-Preisträgers Arash Safaian ist von der deutsch-japanischen Star-Pianistin Alice Sara Ott eingespielt worden.

Anzeige: Glasfaser in Crange

„Lara“, am 1. Juli 2019 beim 54. International Film Festival Karlovy Vary uraufgeführt, erhielt mit dem Spezialpreis der Jury, dem Preis der ökumenischen Jury und dem Best Actress Award (für Corinna Harfouch) gleich drei Auszeichnungen in Karlsbad und am Tag darauf beim 37. Filmfest München den Fipresci-Kritikerpreis sowie den Förderpreis Neues Deutsches Kino in der Kategorie „Beste Regie“. Deutscher Kinostart der „Leuchtstoff“-Koproduktion von Rundfunk und Medienboard Berlin-Brandenburg ist am 7. November 2019, bei uns zu sehen u.a, im Casablanca Bochum und im Eulenspiegel Essen.

| Autor: Pitt Herrmann